Text: Reinhold Pfingstner, Berg- und Schiführer, Ausbildungsleiter Instruktor Schitouren und Schihochtouren der Bundesportakademie Wien, Ausbilder für den Kurs zum Übungsleiter Schitouren der Naturfreunde Österreich
Die Naturfreunde Österreich waren in den vergangenen zwei Jahren maßgeblich an der Entwicklung der „Integrativen Lawinenkunde“ beteiligt. Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern wichtiger Ausbildungsorganisationen Österreichs (Naturfreunde Österreich, Alpenverein, Bergführerverband, Bundessportakademie, Alpinpolizei), erarbeitete einen gemeinsamen Zugang zur Lawinenkunde. Ein Teil dieses Zuganges behandelt die Einzelhangbeurteilung.
Die Erkenntnis, dass es für die Beurteilung von Lawinensituationen mit zunehmender Komplexität und Schwierigkeit der Situation auch angepasste Kompetenzen braucht, war die Grundlage dafür, dem W3-Leitfaden der Naturfreunde eine kompetenzorientierte Klassifizierung zu geben. Daraus resultierend entstand die Matrix W3 – vier Quadranten mit vier unterschiedlichen Kompetenzbereichen (Einsteiger, mäßig fortgeschritten, fortgeschritten, Profi) und den entsprechenden Empfehlungen dazu (mehr darüber auf w3naturfreunde.at).
Gerade Fortgeschrittene und Profis, denen in W3 die Kompetenz zur Einzelhangbeurteilung zugesprochen wird, haben nun ein Schema, um vor Ort bestmöglich Entscheidungen für Einzelhänge treffen zu können.
Die Beschäftigung mit Einzelhängen bzw. Schlüsselstellen einer Tour beginnt schon bei der Tourenplanung. Hier werden sozusagen die Weichen gestellt, ob und in welcher Form die Einzelhangbeurteilung während der Tour notwendig ist. Ziel der Tourenplanung ist es, Entscheidungspunkte, Schlüsselstellen und Routenoptionen festzulegen.
Im Sinne einer „rollenden Planung“ werden die konkreten Entscheidungen zur Routenwahl bzw. zur Beurteilung, ob man in einem Hang aufsteigt oder ihn befährt, während der Tour getroffen.
Strukturiertes Vorgehen bei der Einzelhangbeurteilung bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Risiko (Lawinenwahrscheinlichkeit und Konsequenzen), mit risikoerhöhenden bzw. -mindernden Faktoren und mit dem aus der Entscheidung folgenden Verhalten.
Gelände: Zur Beurteilung der Lawinenwahrscheinlichkeit steht an erster Stelle die Auseinandersetzung mit dem Gelände. Man analysiert das Gelände vor dem Hintergrund relevanter Kriterien wie Steilheit des Hanges, Hanghöhe, Geländeform (gleichmäßig/kupiert, Mulde/Rücken) und Beschaffenheit des Auslaufbereichs (flach, Abbruch, Geländefallen). Die Analyse des Geländes führt zur Beurteilung der grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit, wo und in welcher Größe Lawinen abgehen können. Daraus folgernd kann eine erste Einschätzung stattfinden:
Verhältnisse: Ausgangspunkt für die Analyse des Schneedeckenaufbaus ist das im jeweiligen Einzelhang vorherrschende Lawinenproblem – Neuschnee-, Triebschnee-, Altschnee-, Nassschnee-, Gleitschneeproblem. Damit verbunden erfolgt die Einschätzung, mit welchen Lawinen (Schneebrettern, Lockerschnee- oder Gleitschneelawinen) zu rechnen ist.
Liegen Anzeichen (gebundener Schnee) für Schneebrettlawinen vor, muss beurteilt werden, ob es in der Schneedecke relevante Schwachschichten gibt. Grundsätzliche Informationen darüber liefert zwar der Lawinenlagebericht, sie müssen aber vor Ort überprüft werden. Die Beachtung von Alarmzeichen – frische Lawinen, Risse in der Schneedecke, Wumm-Geräusche, starke Durchfeuchtung – ist dabei von entscheidender Bedeutung. Ist das Vorhandensein einer Schwachschicht nicht offensichtlich, hilft ein Blick in die Schneedecke. Mit einem Schneeprofil und einfachen Stabilitätstests (ECT, Kleiner Blocktest) können Schwachschichten und Auslösewahrscheinlichkeit gut beurteilt werden: Eine Lawinenauslösung ist wahrscheinlich, wenn
Wurden die Auslösewahrscheinlichkeit und die Konsequenzen auf Basis der angeführten Punkte betreffend Gelände und Verhältnisse bestimmt, ist das Risiko unter Berücksichtigung von risikomindernden oder -erhöhenden Faktoren zu beurteilen.
Die abschließende Entscheidung ist immer eine Ja-Nein-Entscheidung.
Nein bedeutet Abbruch oder Alternative.
Ja bedeutet konkrete Verhaltensmaßnahmen; folgende Fragen sind zu stellen: