„Kjør skar vær kar, følg rygg vær trygg!“ Dieses alte norwegische Sprichwort unter Tourengehern heißt: „Wenn du steil fahren willst, musst du mutig sein, folgst du aber dem Rücken, so bist du sicher.“ Diese Weisheit findet sich in jeder strategischen Beurteilungsmethode der Lawinenkunde wieder. Die Hangneigung und das jeweilige Gelände gehören zu den wichtigsten lawinenbildenden Faktoren. Denn für einen Lawinenabgang braucht es neben Schwachschicht und Schneebrett auch eine gewisse Steilheit, damit ein Schneebrett ausgelöst wird und abgleiten kann.
Mit der Hangneigung steigt leider nicht nur das Abfahrtsvergnügen, sondern auch die Auslösewahrscheinlichkeit. Eine quantifizierbare Verbindung zwischen Hangneigung und Auslösewahrscheinlichkeit ist allerdings unbekannt. In den letzten Jahren konnte im Falle von trockenen Schneebrettlawinen nachgewiesen werden, dass ein Lawinenabgang unter 30° Hangsteilheit kaum möglich ist, da nach einer erfolgten Auslösung die Reibung zwischen abgleitendem Schneebrett und der Basis bzw. dem Stauchwall nicht überwunden werden kann. Erst wenn es steiler wird, kann das trockene Schneebrett Fahrt aufnehmen und sich eine Lawine bilden.
Schon 2002 konnte Stephan Harvey zeigen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Gefahrenstufe und der steilsten Hangpartie innerhalb der Anrissfläche von Unfalllawinen gibt. Folglich gilt: Egal welche Lawinengefahr vorherrscht, die Lawinenhäufigkeit nimmt ab 30° immer dramatisch zu. Trotzdem wird die Hangsteilheit in allen strategischen Methoden zur Risikominimierung im Zusammenhang mit der Gefahrenstufe verwendet. Die elementare Reduktionsmethode verzichtet sogar auf alles andere, außer auf Gefahrenstufe und Hangneigung. Wie passt das aber zusammen? Die Antwort lautet: Umfang der Gefahrenstellen und Auslösewahrscheinlichkeit. Beide nehmen nämlich mit steigender Lawinengefahr dramatischer zu als mit der Hangneigung, und beide sind mit der Hangneigung eng verflochten. Deshalb ist ein Geländeverzicht aufgrund der Hangneigung sinnvoll, leicht und naheliegend. Ein Novize kann mit der elementaren Reduktionsmethode sein Risiko effizient minimieren, aber nie gänzlich ausschalten.
Da die Hangneigung stark mit der Fahrfreude korreliert, lohnt es sich, Ergänzungen und Alternativen zur „guten alten“ Hangneigung zu erkunden. Andere Varianten, mit dem Gelände - vor allem mit seiner Komplexität - zu spielen, sind möglich und stellen eine willkommene Ergänzung zum doch etwas rigiden Mantra der elementaren Reduktionsmethode dar.
Das zu vermeidende Gelände ist zweifellos von der typischen Lawinensituation, sprich vom vorherrschenden Problem, abhängig. Wenn wir auf Tour gehen, müssen wir daher zwei Sachen kennen: die Lawinensituation und das zu meidende Gelände. Wir kombinieren eine vereinfachte Form der Schneeanalytik mit den geländeorientierten Methoden des Risikoansatzes und suchen uns aus beiden Ansätzen das Nützlichste heraus. Übrigens beides – zu meidendes Gelände und Lawinenproblem - wird im amtlichen Lawinenlagebericht erwähnt. Seit letztem Winter beschreiben und benennen die deutschsprachigen Warndienste die typischen Lawinenprobleme, Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee und Gleitschnee einheitlich. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, unsere Geländewahl an die Situation anzupassen.
Zwei weitere Faustregeln folgen. Erstens: Wenn ich die Schneedecke nicht kenne und auch ihre Eigenschaften nicht deuten kann, bei mir also die Analytik versagt, muss ich zumindest ein Meister des Geländes sein. Nur bei eindeutig günstiger Lawinensituation sollte ungünstiges, sprich sehr steiles, komplexes Gelände befahren werden. Andernfalls bleibt das Risiko hoch. Kenne ich die vorherrschende Lawinensituation mit ihren Ursachen (d. h. Schwachschichten) gut, kann ich mir beim Gelände mehr Spielraum erlauben.
Zweitens: Bevor ich fahre, sollte ich mir der Konsequenzen im Fall des Falles bewusst sein. Unsere Kollegen in Nordamerika haben das schon etwas länger und stärker im Fokus und haben zusätzlich zur Hangneigung besondere Geländeformen, die dazu führen, verletzt oder möglicherweise tief verschüttet zu werden, in ihre strategischen Methoden aufgenommen. Im Englischen spricht man von terrain traps, also Geländefallen. Zu den typischen Geländefallen gehören Gräben, Felsabbrüche, Gletscherspalten, flache Böden am Fuß von Steilhängen sowie große Hindernisse (z. B. Bäume, Felsblöcke) in der Sturzbahn. Man kann der Hangneigung also die Fragen „Was ist das Problem?“, „Wo liegt das Problem und warum besteht es?“ sowie „Was ist unter mir?“ zur Seite stellen.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Hangneigung ist und bleibt der zentrale Faktor bei der Lawinenbildung. Der Geländeverzicht aufgrund der Hangneigung ist sinnvoll, leicht und naheliegend. Andere Varianten, mit dem Gelände, vor allem mit seiner Komplexität, zu spielen, sind möglich und stellen eine willkommene Ergänzung zu den üblichen risikominimierenden Methoden dar. Denn je nach Lawinenproblem können wir andere Arten des Geländeverzichts wählen. Bei gleicher Gefahrenstufe ein Altschneeproblem zu haben impliziert ein anderes Gelände als bei einem Nassschneeproblem. Diese Lawinenprobleme während einer Tour zu erkennen und richtig zu beurteilen erfordert natürlich etwas mehr Können, als nur die Hangneigung zu beurteilen. Man sollte daher das Problem - wie bereits erwähnt - hinterfragen. Die Antworten darauf muss man nicht zwingend selber finden, sie werden im Lawinenlagebericht ausdrücklich genannt.
Text: Dr. Christoph Mitterer, Mitarbeiter des Lawinenwarndienstes Bayern, Vortragender beim Naturfreunde-Lawinensymposium 2015 in Graz