Text: Dr. Bernd Zenke, ehemaliger Leiter des Lawinenwarndienstes Bayern, Fotos: Martin Edlinger
Wer Auto fährt, braucht einen Führerschein, d. h., man hat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, in der Fahrschule den Umgang mit dem Fahrzeug und die Verkehrsregeln gelernt sowie eine abschließende Prüfung bestehen müssen. Das Fahren mit einem Wohnwagen, mit einem 7,5-t-LKW oder gar mit einem Gefahrguttransporter erfordert weitergehende Fahrpraxis oder sogar zusätzliche Prüfungen. Je höher die Anforderungen, umso mehr Erfahrung und Qualifikation sind notwendig. Schitouren oder Schneeschuhwanderungen kann man glücklicherweise noch ohne vorausgehende Prüfungen unternehmen. Um aber risikobewusst im winterlichen Gelände unterwegs zu sein, gilt wie beim Autofahren: Je schwieriger die Situation ist, umso mehr Erfahrung und Wissen sind nötig. Je kompetenter ich bin, desto schwierigere Situationen kann ich risikobewusst meistern. Dieser Leitgedanke bildet das Grundgerüst des von den Naturfreunden entwickelten Konzepts „W3 – Wer geht wann wohin?“. Für W3 verwenden wir eine einfache übergeordnete Klassifikation, definiert über die Lawinenlage und die Steilheit des Geländes.
Lawinenlage (WANN): Die europäische Lawinengefahrenskala weist fünf Gefahrenstufen auf. Die Stufe 5 dient primär den Sicherungsdiensten, wenn Großlawinen drohen und umfangreiche Straßensperrungen sowie mitunter auch Evakuierungen erforderlich werden. Die verbleibenden vier Gefahrenstufen (GS) unterteilen wir in „sichere und mehrheitlich günstige“ (GS 1 und 2) sowie „teilweise ungünstige und allgemein ungünstige“ (GS 3 und 4) Verhältnisse.
Gelände (WOHIN): Schneebrettlawinen, die für WintersportlerInnen gefährlichste Lawinenart, sind meist erst ab einer Hangneigung von 30 Grad auslösbar. Deshalb nehmen wir diesen Grenzwert, um zwischen „mäßig steilem“ und „steilem“ Gelände (= Spitzkehrengelände) zu unterscheiden.
Die zwei Parameter Lawinenlage und Gelände liefern uns eine Matrix mit vier Quadranten. Jedem Quadranten haben wir ein Kompetenz-Niveau zugeordnet - von „Einsteiger“ bis „Profi“ -, in dem die Wissens- und Erfahrungswerte angeführt werden, die erforderlich sind, um bei entsprechenden Lawinen- und Geländeverhältnissen risikobewusst unterwegs zu sein.
EinsteigerInnen sollten die wesentlichen Kriterien der Lawinengefahrenstufen kennen, also zum Beispiel wissen, dass die Stufe 2 (mäßig) durch die große Zusatzbelastung (beispielsweise wenn eine Schitourengruppe ohne Entlastungsabstände unterwegs ist) geprägt ist oder bei Stufe 3 (erheblich) „Gut“ und „Böse“ oft nahe beieinander liegen und es in kritischen Bereichen bereits durch eine einzelne Person zu einer Lawinenauslösung kommen kann (weitere Infos: www.lawinen.org).
Mäßig Fortgeschrittene sollten sich zwar noch nicht in steiles Gelände wagen, aber die zentralen Aussagen des Lawinenlageberichts verstehen, die typischen Lawinensituationen kennen, sich im Gelände gut orientieren können und mögliche Geländefallen mit erhöhtem Lawinenrisiko erkennen.
Fortgeschrittene, denen man zutrauen kann, bei günstigen Verhältnissen auch in steilem Gelände unterwegs zu sein, sollten zudem lawinenrelevante Gefahrenzeichen erkennen und die Schneedecke soweit ansprechen können, dass sie gebundenem Schnee und potenziellen Schneebrettlawinen ausweichen können. Eine sichere Schitechnik gehört auch dazu; denn Stürze im Steilgelände können auch bei weitgehend günstigen Verhältnissen Lawinen auslösen.
Unter Profis verstehen wir WintersportlerInnen, die über ein ausgeprägtes Wissen über Schnee und Lawinen verfügen. Sie können die Schneedecke lesen, also Schwachschichten erkennen, und vor allem die Prozesse verstehen, die zu deren Entstehung geführt haben. Damit können sie auch bei ungünstigen Verhältnissen in steilem Gelände unterwegs sein.
Der kompetenzorientierte Leitfaden W3 möchte dazu anleiten, den Fokus auf den Faktor Mensch zu richten, und zwar in erster Linie auf sich selbst. W3 will alle, die sich abseits der Pisten bewegen, dazu motivieren, sich in Sachen Lawinenkunde fortzubilden und sich auch immer wieder zu fragen, ob sie für die eine oder andere Unternehmung auch wirklich das notwendige Wissen und Können haben. Denn wie eingangs gesagt: je höher die Kompetenz, umso schwierigere Aufgaben kann man risikobewusst und damit mit Freude angehen.