Am liebsten Kekse und Champagner. Das war die Gipfelmahlzeit der Britin Lucy Walker. Sie lieferte sich mit der US-Amerikanerin Margaret Claudia Brevoort 1871 einen Endspurt um die erste Frauen-Besteigung des Matterhorns (4478 m). Zuvor hatte es erst 19 Gipfelerfolge gegeben. Walker kam der Kollegin knapp zuvor und wurde damit über alpinistische Kreise hinaus bekannt. Einen Kampf um prestigeträchtige Titel im Alpinismus gab es bei den Frauen also bereits vor 140 Jahren.
Im Frühjahr 2010 warteten die Spanierin Edurne Pasaban und die Südkoreanerin Oh Eun-sun im Basislager des Shisha Pangma bzw. der Annapurna auf besseres Wetter. Es ging bei beiden um den Gipfel des 14. Achttausenders. Oh Eun-sun schaffte am 27. April die Annapurna und damit als erste Frau die Besteigung aller vierzehn Achttausender. Pasaban erreichte am 17. Mai den Gipfel des Shisha Pangma. Das jahrelange Wettrennen war entschieden. Ein Makel blieb: Sowohl Oh als auch Pasaban benutzten hin und wieder zusätzlichen Sauerstoff, Fixseile sowie Hochlager.
Der Besteigungsstil ist in der Szene wichtiger als der Gipfel an sich. Deshalb war Gerlinde Kaltenbrunner am 23. August 2011 mit der lang ersehnten K2-Besteigung zumindest für die breite Masse die moralische Siegerin. Bis 2009 mischte auch die Italienerin Nives Meroi ganz vorne mit: Sie hat mit ihrem Mann Romano Benet bisher elf Achttausender bestiegen, noch am ehesten im Alpinstil. Die beiden nahmen ambitionierte Ziele wie die Erstbegehung des Makalu im Winter in Angriff. Doch Meroi stieg aus dem – wie sie es formulierte – „Zirkus“ eine Zeitlang aus, weil ihr Mann schwer erkrankte und ihr Schwager in spe beim Eisklettern tödlich verunglückt war. Diese schwierige Zeit zu bewältigen sei schwieriger als jeder Achttausender, so Meroi.
Kaltenbrunner und Pasaban verneinten stets, dass es ihnen um den Titel „Erste Frau auf allen 14 Achttausendern“ gehe. Das Wettrennen der Frauen sei nur von den Medien inszeniert. Ähnlich argumentierte Reinhold Messner in den Achtzigern, als es bei den Männern um diesen Erfolg ging. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Medien auf die populären Achttausender einfach anspringen, und wenn man jedes Jahr einen Gipfel besteigt, der noch fehlt, spielt man auch als Bergsteiger seine Rolle in dem Spiel. Pasaban räumt mittlerweile ein: „Ich muss zugeben, dass ich ganz zuletzt an einem Punkt war, an dem ich dachte: Naja, vielleicht schaffe ich es ja doch als erste Frau.“
PR-Experten weisen auf den Marktwert des Titels hin – siehe auch Reinhold Messner, der nicht abstreitet, davon profitiert zu haben. Kaltenbrunner ist im gesamten deutschsprachigen Raum, vom Norden Deutschlands bis zum Gardasee mit Vorträgen ausgebucht, ihre Homepage wurde am Tag des K2-Gipfelsiegs 17 Millionen Mal angeklickt.
Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Bergsteigerinnen auf Achttausendern verstellt den Blick auf jene, die in anderen Bereichen mit den Männern souverän mithalten. Genannt seien hier die US-amerikanische Kletterlegende Steph Davis, die spanische Kletterin Josune Bereziartu, die deutsche Eiskletterin Ines Papert sowie auch jüngere Frauen wie die deutsche Kletterin Dörte Pietron, die US-amerikanische Kletterin Sasha DiGiulian und die Japanerin Kei Taniguchi, die bisher als einzige Frau mit dem Piolet d’Or für außergewöhnliche Leistungen im extremen Bergsport ausgezeichnet wurde: Gemeinsam mit ihrem Partner Kazuya Hiraide schaffte sie 2009 die Erstbegehung der Samurai-Direct-Route am Kamet (7756 m) in Indien.
Die Ukrainerinnen Marina Kopteva und Anna Yasinskaya sowie die Russin Galina Chibitok verbuchten 2011 eine Erstbegehung am Great Trango Tower in Pakistan und wurden dafür mit dem Karl Unterkircher Award ausgezeichnet. Die Kletterin Dörte Pietron – Bergführerin und Physikerin – ist eng mit Patagonien verbunden. Sie schaffte die Westwand des atemberaubenden Cerro Torre als erste Frau. 2010 durchstieg sie mit der Argentinierin Milena Gomez die Afanassieff-Route am Fitz Roy – die erst fünfte Wiederholung und die zweite Besteigung durch Frauen. 2010 und 2011 versuchte Ines Papert – mehrfache Weltmeisterin im Eisklettern – eine Erstbegehung der Südostwand des 5842 m hohen Kyzyl Asker in Kirgisien – doch sie scheiterte. Im Sommer 2012 gelang ihr eine Erstbegehung am Mount Asgard auf Baffin Island in Kanada. Bereziartu erreichte 2005 den höchsten Schwierigkeitsgrad im Klettern, gleichauf mit den Männern. Erst 2011 gelang das wieder, nämlich Sasha DiGiulian.
Die genannten Sportlerinnen hatten wichtige Wegbereiterinnen. Das Ziel, alle 14 Achttausender zu erreichen, wurde schon vor 20, 30 Jahren von Frauen angepeilt: Von der Britin Alison Hargreaves etwa, die 1995 am K2 umkam, sowie von der Polin Wanda Rutkiewicz, die 1992 am Kangchendzönga verschwand. Oder von der US-Amerikanerin Christine Boskoff, die 2006 in China unter einer Lawine starb.
Alison Hargreaves war zweifache Mutter, ihr Mann kümmerte sich um die Kinder, während sie auf Berge stieg. Im Unterschied zu ihren Kollegen, die ja großteils Familienväter sind, musste sie immer wieder eine Medienschelte hinnehmen, weil sie als Mutter solche Risiken einging. Sie bestieg den Mount Everest und den K2 und reüssierte auch an den klassischen Nordwänden der Alpen.
Wanda Rutkiewicz steht für einen autonomen, selbstbewussten Frauenalpinismus: Sie ging am liebsten in reinen Frauenseilschaften. Sie bestieg acht Achttausender. Oder: Lynn Hill kletterte 1993 als erster Mensch die Nose am El Capitan in Kalifornien frei. Als sie zurückkam, sagte sie den verblüfften Männern: „It goes, boys!“
Viele Pionierinnen sind heute vergessen: Wenn man ihre Leistungen an jenen der Männer misst – was man in einer anderen Sportart kaum tun würde, haben viele von ihnen keine Spitzenleistungen vollbracht; aber auch durchschnittliche Leistungen sind etwas Besonderes, weil die Frauen damals große Widerstände und Vorurteile überwinden mussten.
Die Engländerin Beatrice Tomasson sorgte am 1. Juli 1901 für ein denkwürdiges Ereignis: Zum ersten Mal wurde von ihr und zwei Bergführern die Marmolada-Südwand in den Dolomiten durchstiegen. Paula Wiesinger, 1907 in Bozen geboren, begann mit ihrem Ehemann Hans Steger, in den Dolomiten Wände zu durchsteigen, von denen es hieß, dass eine Frau sie nie schaffen würde. Wiesinger kletterte im sechsten, dem damals höchsten Schwierigkeitsgrad auch im Vorstieg. Für König Albert von Belgien fungierte das Ehepaar immer wieder als Bergführer. Wiesingers Beteiligung wurde vom König auch deshalb gewünscht, weil er so seine kritisierten Bergtouren als unbedenklich rechtfertigten konnte, da sogar „ein Mädchen“ imstande sei „mitzugehen“.
Dass Frauen große Leistungen erbringen können, zeigte auch die niederländische Kletterin Jeanne Immink. Auf ihrer Tourenliste stehen mehrere neue Routen in Südtirol, aber auch Wintererstbegehungen wie an der Nordwand der Kleinen Zinne. Ihr wurde die Ehre zuteil, dass man zwei Gipfel in den Dolomiten - Cima Immink und Campanile Giovanna - nach ihr benannte.
Der italienischen Bergsteigerin Mary Varale gelang mit ihren Kletterpartnern Emilio Comici und Renato Zanutti die Erstbegehung der „Gelben Kante“, einer fast senkrechten Wand an der Kleinen Zinne in den Dolomiten. „Wir sind nicht so ängstlich und schwächlich, wie die Männer gerne glauben wollen“, meinte sie. Fast alle ihre Klettertouren waren weibliche Erstbegehungen.
Das Ehepaar Hettie und Günter Oskar Dyhrenfurth bestieg 1934 den Westgipfel (7315 m) des Sia Kangri in Pakistan. Hettie stellte damit den neuen weiblichen Höhenrekord auf, der erst 1954 von der Französin Claude Kogan am Cho Oyo gebrochen wurde. Die Dyhrenfurths organisierten 1930 auch eine Expedition zum Kangchendzönga. 1934 versuchten sie sich am Gasherbrum I und II. Das Buch „Memsahb im Himalaya“ von Hettie Dyhrenfurth ist für die Bergliteratur ungewöhnlich: Sie schreibt nüchtern, amüsant und nicht nur über Anstrengung und Gipfelglück.
Womöglich sind die Erfahrungen an der Grenze in Zukunft wesentlicher als bloß Rekorde. Die Aufmerksamkeitsspirale dreht sich immer schneller, auch im Alpinismus. Doch es gibt die Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Authentizität. Statt martialischen Berichten von der „Kriegsfront Berg“ oder verklärten Erzählungen bieten ungeschönte Berichte von Alpinistinnen und Alpinisten in dieser Hinsicht viel mehr. Denn, wie der Südtiroler Bergsteiger Hanspeter Eisendle meint: „Ein richtiges Abenteuer ist das, wenn man froh ist, dass es vorbei ist.“
Text: Eva Maria Bachinger, Bergsteigerin und Buchautorin