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Ein Blick in den Urwald Rothwald

Zurück zum wilden Wald

Urwald gibt es bei uns nur mehr in homöopathischen Mengen. Die Restbestände gilt es gerade in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise zu bewahren, damit wir von ihnen lernen können und unsere Wirtschaftswälder wilder werden.

Text: Christine Sonvilla, Fotos: Christine Sonvilla, Marc Graf

 

 

Eine gigantische tote Rotbuche liegt 40 Meter lang quer über dem Waldboden. Braun, orange und rot schimmernd präsentiert sich ihre vermodernde Borke. Flechten und Moose besiedeln ihre Oberfläche, dazwischen strecken Pilze ihre Fruchtkörper an die Luft, und unter der Borke krabbeln Käferlarven umher. Die Myriaden von Mikroorganismen, die sich tiefer im verrottenden Holz und im Boden tummeln, lassen sich nur erahnen. Hier im Rothwald, dem größten Urwaldrest des Alpenbogens. Dass es diesen Schatz – der mit seiner Fläche von rund 4 km2 etwa so groß wie der 6. Grazer Stadtbezirk ist – überhaupt noch gibt, liegt an den über Jahrhunderte andauernden Grenzstreitigkeiten zweier Klöster. Weil sie sich nicht einigen konnten, wurde das Gebiet verstaatlicht. Im 18. Jahrhundert ging es in den Besitz der Familie Rothschild über, die den Wald 1875 unter strengen Schutz stellte.

 

Abgesehen vom Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal mit seinem Rothwald finden sich in Österreich nur noch ein paar weitere Urwaldflecken und Naturwälder, insbesondere im Nationalpark Kalkalpen, im Nationalpark Hohe Tauern mit dem Rauriser Urwald und im Waldviertel. Laut WWF sind in Österreich nur mehr 3 Prozent des Waldes natürlich, weitere 8 Prozent sehr naturnah. Wirtschaftswälder, die meist aus Monokulturen bestehen und unsere Landschaft dominieren, haben mit einem Wald im eigentlichen Sinn wenig zu tun. Selbst wenn das Thema Nachhaltigkeit überall großgeschrieben wird, versteht der durchschnittliche Forstwirt darunter hauptsächlich eines: Es wächst mehr Holz nach, als gefällt wird. Über die Qualität des Waldzustands sagt dieses Nachhaltigkeitsverständnis nichts aus. Die Bäume in einem klassischen Forst – am beliebtesten ist in Mitteleuropa nach wie vor die Fichte – werden zur gleichen Zeit gepflanzt und schießen im Kampf ums Licht, ohne im unteren Bereich Äste auszubilden, rasch nach oben. Das Resultat sind gerade Stämme, möglichst gleich lang, gleich groß und gleich dick. So mag es die holzverarbeitende Industrie, die spätestens dann beliefert wird, wenn die Bäume ihre Hiebreife erreichen. Bei Fichten ist das zwischen 80 und 100 Jahren der Fall; damit sind die Bäume – verglichen zum Menschen – gerade einmal im Kindesalter.

 

Urwaldlektionen

Ein Urwald wie der Rothwald hat sich seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 11.500 Jahren völlig eigenständig entwickelt. Die Bäume sind natürlich gewachsen, unterschiedlich alt, unterschiedlich groß und unterschiedlich dick. Und was besonders wichtig ist: Bäume dürfen hier altern und absterben. Baumriesen, die mehrere Jahrhunderte im Wald gestanden sind, verrotten auch über mehrere Jahrhunderte. Ganz anders als der Name es verheißen mag, ist Totholz Leben spendend und essenziell für den Wald. Es dient als Erosionsschutz sowie Kohlenstoff- und Wasserspeicher, liefert Nährstoffe und bietet einer Vielzahl von Insekten, Spinnentieren, Vögeln, Säugetieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen Lebensraum und Nahrung. Zudem sind die größten Bäume des Waldes mit Hunderten anderen Bäumen verbunden und interagieren mit diesen über ein unterirdisches Wurzel-Pilz-Netzwerk, das für die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit des Waldes unentbehrlich ist.

 

 

Katastrophen nutzen

Auch von sogenannten Naturkatastrophen können Wälder profitieren. Dazu ein Beispiel: Im Nationalpark Bayerischer Wald mussten 1983 über 100 Hektar Wald mit weit mehr als 50.000 Festmetern Holz einem Sommergewitter Tribut zollen. Statt die umgestürzten Fichten zu entfernen ließ man sie in der Naturzone des Nationalparks liegen. Das Resultat? Die Artenvielfalt vergrößerte sich, und sogar vom Aussterben bedrohte Arten konnten sich erholen. „Wir gewannen wertvolle Erkenntnisse, die auch in Wirtschaftswäldern bereits Anwendung finden. Wenn Totholz in der Sonne liegt, entstehen ganz andere Lebensgemeinschaften. Auch das braucht der Wald“, erklärt Jörg Müller, der im Nationalpark als Ökologe tätig ist. Windwürfe, Borkenkäferbefall oder Lawinen schaffen Raum für die Rückkehr wilder Wälder.

Ohne solche „Katastrophen“ besteht der erste Schritt zu einem natürlicheren Wald darin, einen gewissen Anteil von Bäumen altern und absterben zu lassen. Darüber hinaus muss man umfangreichere Schutzgebiete weiträumig miteinander über Trittsteinwälder vernetzen, um den Austausch der Arten zu gewährleisten. Nichts kann isoliert voneinander existieren. In Zusammenarbeit mit der Wissenschaft wird daher nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa daran gearbeitet, klimafitte, artenreiche Mischwälder zu schaffen, die sowohl für die Wirtschaft als auch für die Natur einen Hoffnungsschimmer darstellen.

Der Rothwald ist jedenfalls ein wichtiger Referenzpunkt, damit wir den Weg hin zu wilderen Wäldern finden, dem anhaltenden Verlust der Pflanzen- und Tiervielfalt etwas entgegensetzen sowie Waldökosysteme gezielt fördern können.

Habichtkäuze leben in Wäldern mit alten oder abgestorbenen Bäumen, die ausreichend große Höhlen für die Brut bieten.
Viele Pilze gedeihen im Wald erst dann, wenn ausreichend Totholz vorhanden ist.
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