Das Interview führten Irene Raffetseder und Marianne Mailer-Gebhart, Naturfreundejugend Österreich. Foto: Thomas Lehmann
Herr Prof. Essl, die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, dass Österreich bis zum Jahr 2040 klimaneutral ist. Dennoch gibt es derzeit keine gesetzlich verankerten Klimaschutzziele. Besteht Ihrer Meinung nach eine realistische Chance, Klimaneutralität ohne ein wirksames Klimaschutzgesetz zu erreichen?
Nein! Ein wirksames Klimaschutzgesetz ist der Angelpunkt einer effektiven Klimapolitik. Das wissen auch alle politisch Verantwortlichen. Und ganz wichtig: Eine verbindliche Klimapolitik bedeutet Planungssicherheit für alle Menschen, Firmen, Behörden etc. Es ist daher völlig unverständlich, warum dieses Gesetz schon so lange verzögert wird.
Der Biodiversitätsrat, dem Sie angehören, fordert die Bundesregierung dazu auf, die für Österreich vorliegende Biodiversitätsstrategie endlich umzusetzen. Die Leiter*innen der Mobilitätsinstitute der TU Wien, der BOKU Wien und der Universität Innsbruck fordern in einem offenen Brief an die Bundesregierung (tempolimit-jetzt.at) eine Reduktion der Höchstgeschwindigkeiten auf Österreichs Straßen. Maßnahmen zur Umsetzung dieser Forderungen gibt es jedoch weiterhin keine. Der fehlende politische Wille, wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen und geforderte Maßnahmen zu setzen, führt auch zu verschärften Protestaktionen von Klimaaktivistinnen und -aktivisten. Sind diese Aktionen für Sie nachvollziehbar?
Ja, das sind sie. Wenn mittlerweile sogar die Rektorinnen und Rektoren aller 22 öffentlichen Universitäten Österreichs die Anliegen der Klimaaktivistinnen und -aktivisten unterstützen, wenn UNO-Generalsekretär António Guterres in dramatischen Worten zu ernsthaftem Klimaschutz auffordert, so ist es doch völlig klar, dass diese Aktivitäten wichtig und nötig sind. Leider. Gäbe es in Österreich eine ernsthafte Klimapolitik, wären Klimaproteste nicht nötig. Es ist daher völlig klar, wo die Verantwortung liegt: bei säumigen Politikerinnen und Politikern sowie blockierenden Interessenvertreterinnen und -vertretern.
Wissenschaftsskepsis scheint auch bei der Klimakrise eine Rolle zu spielen. Woher kommt diese Skepsis?
Wenn man die Klimaforschung ernst nimmt, geben die Einsichten, die daraus erwachsen, großen Anlass zur Sorge, und sie stellen auch einen Anlass dar, sein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Da individuelle Verhaltensänderungen häufig nur ungern erfolgen, ist es ein durchaus rationales Vorgehen, die unbequemen Fakten zu leugnen. Damit erlischt auch die Motivation zur individuellen Verhaltensänderung. Hinzu kommt, dass es in Zeiten des Internets und sozialer Medien für viele Menschen oftmals schwer zu erkennen ist, was wissenschaftliche Fakten und was Fake News sind.
Warum, glauben Sie, fällt es uns so schwer, unser Handeln und unsere Strukturen zu ändern, um Klimaschutzziele erreichen zu können?
Effektive Klimapolitik verlangt nach vielen und tiefgreifenden Änderungen. Doch das sind Änderungen, die unsere Gesellschaft gerechter und die Zukunft lebenswerter machen werden. Gegen Änderungen gibt es allerdings meist viele Widerstände. Bei den politischen Verhandlungen zur Bewältigung der Klimakrise sitzen ja auch nicht die Akteurinnen und Akteure der Zukunft am Tisch, sondern vor allem jene, die ihre eigenen Interessen verteidigen – auch solche, die nicht mehr zeitgemäß sind. Das ist wie ein Bremsklotz. Umso wichtiger ist eine Zivilgesellschaft, die vehement Veränderungen einfordert und damit eine starke Verbündete für eine Klima- und Umweltpolitik ist, die ihren Namen verdient.
Welche konkreten Schritte müsste die Politik setzen, um Klimaneutralität bis 2040 bzw. das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, die Erderhitzung auf +1,5 Grad zu beschränken?
Da die Zeit drängt, heißt es, rasch zu handeln und nicht weiter Scheinklimapolitik zu betreiben. Das will auch die Mehrheit der Bevölkerung, der Wähler*innen. Da bereits viel Zeit ungenützt verstrichen ist, wird es sehr schwierig, das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Aber jedes Zehntelgrad zählt! Je stärker wir den Klimawandel eindämmen, desto geringer werden die Schäden sein. Das Positive ist: Es gibt ein starkes gesellschaftliches Momentum für Klimapolitik und in zahlreichen Bereichen ungeheure Fortschritte – etwa bei der Erzeugung alternativer Energie. Die Zukunft ist gestaltbar, und ich halte es für möglich, dass sich ein gesellschaftlicher Konsens für eine echte Klimapolitik durchsetzen wird.
Was würde es für junge Menschen bedeuten, wenn weiterhin so wenig für effektiven Klimaschutz unternommen wird?
Sie würden eine sehr ungemütliche Zukunft erleben, das ist unstrittig.