Text: Marlies Czerny, leidenschaftliche Bergsteigerin, die 82 Viertausender-Gipfel der Alpen bestiegen hat, Fotos: Andreas Lattner
Reinhold Messner behauptet das, Peter Habeler und Hermi Lottersberger, eine der wildesten Bergsteigerinnen ihrer Zeit, erzählen das auch: „Der Blasl-Sepp war mein Lehrmeister.“ Der Blasl-Sepp? Der Kirchturmdachdecker aus Göriach, zehn Autominuten von Lienz in Richtung Großglockner entfernt, hieß eigentlich Sepp Mayerl – und nach ihm benannt ist der „eisgeliebte“ Anstieg durch die Glockner-Nordwand.
Sepp Mayerl war nicht nur der Bub vom Blasl-Hof, weshalb ihn viele Blasl-Sepp riefen, er war ab den frühen 1960er-Jahre auch einer der gefinkeltsten Kletterer im Alpenraum. Sogar im Himalaya gelangen dem Osttiroler Erstbesteigungen, etwa die auf den Lhotse Shar (8382 m). Viele Wiederholer fand dieser extreme Anstieg auf den eleganten Nebengipfel des Lhotse allerdings nicht, eine andere Bergfahrt dafür umso mehr. Die Tour, die Sepp Mayerl am 19. Oktober 1967 mit Heindl Messner, einem Cousin Reinholds, und Hans Linder, einem Wirt und Kinobesitzer aus Lienz, in seinen Heimatbergen unternahm, ist sein vielleicht größtes Erbe an die nächsten Generationen von Alpinistinnen und Alpinisten: die Mayerlrampe am Großglockner.
Dabei war der Plan an jenem bitterkalten Oktobermorgen ein anderer gewesen: Die Berglerrinne war ihr Ziel. Doch Sepp konnte der Eisrampe, die Richtung Glocknerhorn zog, nicht widerstehen. „Wird sicher ganz wenig gemacht“, dachte er sich und stieg mit Stopselzieher-Eisschrauben und zwei Pickeln voraus. Erst Wochen später erfuhr er, dass es sich um eine Neutour handelte.
Die „Zutaten“ machen offensichtlich, warum die Mayerlrampe nichts an Beliebtheit verloren hat: der mit 3798 m höchste Berg der Alpenrepublik und diese respekteinflößende und mit Mythen umgebene Nordwand. Und dazu eine anspruchsvolle Linie, die sehr oft von solidem Blankeis durchzogen und relativ steinschlagsicher ist – eine Seltenheit in Österreich.
Über den Zustieg lässt sich philosophieren. Die „ehrliche“ Variante erfolgt von der Nordseite, von Heiligenblut in Kärnten mit Ausgangspunkt Kaiser-Franz-Josefs-Höhe. Nur von dort sehen Nordwand-Aspirantinnen und -Aspiranten ehrfürchtig in ihr Vorhaben ein und können die Linie als Ganzes durchsteigen. Nur hier erlebt man den Anmarsch über die Pasterze bzw. den entstandenen Gletschersee und eine Nacht im neuen Glocknerbiwak. Doch oft herrschen ausgerechnet dann gute Verhältnisse, wenn wegen des Winterschnees die Großglockner-Hochalpenstraße noch gesperrt ist.
Schon die Erstbegeher wählten daher den Anstieg von Süden, von Kals kommend, via Grögerrinne. Eine Crux dabei: Man seilt sich von der Unteren Glocknerscharte dreimal in die Nordseite hinab. Trifft man hier, einmal die Seile abgezogen, auf miese Verhältnisse, steht man in abschüssigem Terrain auf der falschen Seite des Berges. Einen langen Quergang später beginnt das Herz der Mayerlrampe zu schlagen. Es folgt ein rund 70 Grad steiler Eisteil. Mit dieser Variante „umgeht“ man den Bergschrund von oben. Dabei ist es eben dieser, der für Stilisten den Start einer Nordwand markiert und nicht selten die Schlüsselstelle darstellt.
Nachdem mein Seilpartner und ich vor einigen Jahren schon einmal die Pallavicini-Rinne vom Norden durchstiegen hatten, wollten wir an einem kalten Frühlingstag zur Mayerlrampe von Süden kommen. Weil das weiße Gold in dünner Spur noch direkt bis zum Lucknerhaus reichte, entschieden wir uns, die Schier mitzunehmen.
Eine Stunde nach Mitternacht schritten wir vom Lucknerhaus mucksmäuschenstill in die Nacht hinein. Kurz vor der Grögerrinne wurde es dunkelblau und orange am Horizont, wenig später wurden die Hohen Tauern erleuchtet. In der Unteren Glocknerscharte angekommen, fielen die ersten Sonnenstrahlen auf unser Gesicht. Wie wohltuend, ehe wir in den Schatten der Nordwand eintauchten.
„In Gott’s Namen“, pflegte Sepp Mayerl beim Einstieg einer Tour zu sagen. Auch uns kam das über die Lippen, als wir beim Abseilen zehn Ameisen erspähten, die vom Glocknerbiwak kommend durch die weiße Flanke krabbelten. Die guten Verhältnisse hatten sich herumgesprochen, die Ameisen mutierten bald zu ausgewachsenen Bergsteigern.
Zu unserer Verwunderung war sogar eine Vierer-Seilschaft unterwegs. Es traf sich im unteren Teil gut, dass wir überholen konnten – Eiskletter-Seilschaften über sich zu haben ist nie angenehm. Wir wollten doch Eis mit Grat, nicht Eis mit Schlag! Unsere Sorgen lösten sich bald in Luft auf. Der Durchstieg wurde zum Genuss. Nicht einmal die Schier fielen unangenehm ins Gewicht. Zwei Seillängen sicherten wir in bombenfestem Eis. Das Prachtpanorama vom Standplatz über diese schneeweißen Flanken hinaus wirkte wie das Sahnehäubchen obenauf. Doch die Krönung würde erst folgen.
Am Nordwestgrat genossen wir einsame Stille. Unser Bergsteigerherz klopfte und lachte beim Klettern über die angezuckerten Felsen. Bald erreichten wir das goldene Gipfelkreuz, und uns pochte das Herz noch schneller. Wegen der dünnen Luft? Oder wegen des Wahnsinnsausblicks, der uns den Atem raubte? Es erfüllte uns mit Erhabenheit und Demut, wieder einmal am höchsten Punkt unseres Landes stehen zu dürfen. Über den Normalweg, auf dem ganz normaler Hochbetrieb herrschte, ging es hinunter.
Über dem Glocknerleitl schlug unser Herz noch einmal schneller. Wir beschlossen nämlich, dort die Schier anzuschnallen. Fies, wenn die ersten Schwünge des Tages gleich die steilsten sind. Doch das Leitl ließ sich an diesem Tag langsam und kontrolliert sicher befahren. Danach waren ein paar bockige Meter zu überwinden, aber bald schmierte der Firn wie Butter. Wie auf einer Panorama-Piste fühlten wir uns – nur einsamer und erfüllter. Im Nu gelangten wir zurück zu unserem Ausgangspunkt. Mittags wieder beim Lucknerhaus zu sein, war eine feine Sache. Zum Tourenabschluss gönnten wir uns Heidelbeergermknödel und Kaffee. Ob Sepp Mayerl damals auch in diesen Hochgenuss gekommen ist?
Die Kalser Bergführer bieten auch die Glockner-Besteigung über die Mayerlrampe an. Vittorio Messini ist einer von ihnen. „Für mich persönlich ist das eine super Tour“, sagt Vitto. Er weiß bestens über einen alternativen Zustieg von Süden Bescheid, wo man sich zwischen Teufelskamp und Glocknerwand zum Glocknerbiwak abseilen und absteigen kann – noch mehr Nordwandfeeling garantiert. Von Begehungen nach April rät er wegen zu hoher Temperaturen ab, die beste Zeit sei der Herbst. „Mittlerweile schwindet das Eis auch in der Mayerlrampe deutlich. Doch im Herbst bildet sich immer wieder etwas. Somit ist es nach wie vor eine gute Nordwand-Tour, wenn die Verhältnisse passen.“
Weitere Infos: bergfuehrer-kals.at