Text: Christine Sonvilla, Fotos: Marc Graf und Christine Sonvilla
Nebelschwaden so bauschig wie Watteknäuel wabern über den Fluss, und das erste Licht des Tages fließt langsam an den bewaldeten Hängen in Richtung Talboden. Wer früh die Wanderschuhe anzieht, hat nicht nur die Chance auf derlei Stimmungen, sondern trifft vielleicht sogar Schwarzstorch oder Fischotter beim morgendlichen Snack an.
Das Thayatal ist eines der wenigen noch urwüchsigen Täler, die in Mitteleuropa überdauert haben. Aus der Vogelperspektive betrachtet windet sich die Thaya – der Namen gebende Fluss – wie eine Schlange dahin. Über Jahrmillionen hat sie sich in das umliegende Gestein eingegraben, bis zu 150 Meter tief. Hänge voller Buchen und Eichen flankieren sie, in Tschechien wie in Österreich, denn in ihrer Mitte verläuft die Staatsgrenze. Die Natur wechselt beliebig die „Fronten“: Der Nationalpark Thayatal, der kleinste Nationalpark Österreichs, schließt direkt an den tschechischen Nationalpark Podyjí (Národní park Podyjí) an. Das österreichische Schutzgebiet mag mit 13,6 km² Fläche zwar klein sein, es zeigt aber Größe, wenn es um die Artenvielfalt geht (Fläche in Österreich und Tschechien: 77 km²). Die Windungen der Thaya schaffen unzählige Nischen, die mal trocken und felsig, mal feucht und dunkel sind und alle Facetten dazwischen bieten.
Eineinhalb Autostunden nördlich von Wien verabschiedet sich spätestens am Parkplatz vor der Burgruine Kaja der Handyempfang. Hier im nordöstlichen Eck des Waldviertels erinnert es einen ein wenig an einen antizivilisatorischen Zufluchtsort. Die Straßen sind nur wenig befahren, und der vernachlässigbare Restlärm schafft es nicht über die steilen Hänge ins Tal hinab. Genauso wenig wie die vielen Äcker des Waldviertels. Denn im Kajabachtal, einem Seitental der Thaya, dominieren Moose und Farne, es ist kühl, umgestürzte Bäume liegen am Wegesrand, mächtige Felsbrocken ragen aus dem Waldboden, und mitten durch plätschert der Bach, der nur auf den ersten Blick unscheinbar wirkt.
Nur mehr 100 Edelkrebs-Populationen gibt es schätzungsweise noch in ganz Österreich, im Kajabach findet sich eine davon. Die bis zu 20 cm langen Krebse wissen sich aber zu tarnen. Auf vorbeischwimmende Beute wartend verharren sie wie braune Steine reglos im Bachbett. Es braucht ein genaues Auge und viel Geduld, um ihnen auf die Schliche zu kommen. Und es braucht den Kajaweg, einen Rundwanderweg, der in knapp einer halben Stunde an den Edelkrebs-Hotspots vorbeiführt. Verweilen kann man freilich deutlich länger: Ein offizieller Bachzugang lädt zum Kühlen der Füße ein, und vom Burgfried der 800 Jahre alten Burgruine Kaja, die man von Anfang Mai bis Ende Oktober an den Wochenenden und Feiertagen besuchen kann, lässt sich der Blick auf den Wald des Kajabachtals genießen.
Der Wald prägt das Tal. Vor allem Laubbäume wie Hain- und Rotbuche, Stiel- und Traubeneiche sowie Ahorn finden sich im Green Canyon Österreichs, wie das Thayatal auch bezeichnet wird. Im Verlauf eines Jahres wechselt der Wald ständig seinen Charakter. Im Frühling färben Leberblümchen, Buschwindröschen, Platterbsen und viele andere Erstblüher den Waldboden bunt, im Mai herrscht üppiges Grün vor, der Türkenbund verschönt den Sommer, und im Oktober hält nicht nur an der amerikanischen Ostküste, sondern auch im Thayatal der Indian Summer Einzug.
Der beste Eindruck von der verschachtelten Lage des Nationalparks und dem mäandrierenden Lauf der Thaya bietet sich vom Umlaufberg. Der 378 m hohe Berg wird von der Thaya fast zur Gänze umflossen, daher rührt der Name. Lediglich ein 100 m breites Felsband aus hartem Granitgneis hindert den Fluss daran, seinen Lauf mit einem Durchbruch abzukürzen.
Wer sich so richtig mit dem Green Canyon vertraut machen möchte, dem sei ans Herz gelegt, von der Burgruine Kaja ausgehend noch tiefer in den Nationalpark einzutauchen. Der rot markierte Thayatalweg führt einen wahlweise über eine 6 oder 9,5 km lange Tour zu allen Highlights des Tals, wie den Mündungsbereich des Kajabaches, die vielen Flussschlingen der Thaya, die Möglichkeit auf Smaragdeidechsen-Sichtungen und den Ausblick vom Umlaufberg. Von dort oben fällt der Blick auf ein schmales Band zwischen Fluss und Wald. Wiesensalbei, Pechnelken und Johanniskraut gedeihen hier; Schwalbenschwanz, Kleiner Fuchs, Magerrasen-Perlmuttfalter und rund 950 andere Schmetterlingsarten flattern zwischen ihnen umher. Früher haben hier Nutztiere gegrast und die Wiesen entstehen lassen; heute sorgt der Nationalpark dafür, dass die Artenfülle erhalten bleibt. Vor allem in der ersten Junihälfte – bevor gegen Mitte des Monats die Balkenmäher erstmals zum Einsatz kommen – stehen die Wiesen in ihrer ganzen Pracht.
Bei zwölf Wanderwegen, die mal als Themenweg, mal als Rundweg oder grenzüberschreitend konzipiert sind, ist für Naturentdecker*innen aller Fitnesslevels und Altersstufen etwas dabei.
Schwer vorstellbar, aber es gab eine Zeit im Thayatal, in der Erholungsuchende, Naturliebhaber*innen und Menschen generell unerwünscht waren. Fast 40 Jahre befand sich das Tal im Griff des Eisernen Vorhangs; für die Menschen ein Drama, für die Natur ein Segen. Denn viele Tiere und Pflanzen eroberten in dieser Zeit den menschenfreien Schlupfwinkel. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs wurde das grüne Potenzial des Grenzstreifens erkannt – zum Glück. 1991 entstand das tschechische Schutzgebiet, 2000 der österreichische Nationalpark Thayatal. Und sieben Jahre später ereignete sich eine kleine Sensation: Die seit den 1960er-Jahren in Österreich für ausgestorben geglaubte Wildkatze meldete sich zurück. Nicht ganz freiwillig, denn sie war in eine Falle getappt. Lockstöcke, sägeraue Holzpflöcke, mit verführerisch duftendem Baldrian präpariert, hatten ein paar Katzenhaare abbekommen. Genug, um sie genetisch zu analysieren und den definitiven Beweis in Händen zu halten. Totgesagte leben eben länger.
Vielleicht war die Sperrzone der Schlüssel zu ihrem Überleben. Heute können Naturfans auf den Spuren der Wildkatze wandeln. Entlang des Einsiedlerweges (mit Start vom Nationalparkhaus) gibt es neben lohnenden Ausblicken viel Spannendes rund um die samtpfotige Rückkehrerin zu erfahren. Wer Wildkatzen hautnah beobachten möchte, stattet Frieda und Carlo einen Besuch ab: Sie leben als Botschafter aus der Wildnis in der weitläufigen Wildkatzenanlage beim Nationalparkhaus.
Mitunter muss man gar nicht hoch hinaus, um in die Natur des Green Canyon einzutauchen. Hardegg, die einzige Ortschaft im Nationalpark Thayatal und „kleinste Stadt Österreichs“ (hier haben nur 90 Personen ihren Hauptwohnsitz), wird von den Thayatal-Wäldern richtiggehend ummantelt. Das garantiert Wildtierbegegnungen sogar mitten im Städtchen, über dem die mächtige mittelalterliche Burg Hardegg thront. Wer den Tag im Garten eines Hardegger Gasthofs ausklingen lässt, sollte deshalb immer die Augen offen halten. In der Dämmerung zieht nämlich der Uhu gern seine Runden über der Stadt, und auch der Fischotter schaut hie und da vorbei.