Damals, als die Gummistiefel noch aus Holz waren, suchten kühne Jungs aus England eine direkte Verbindung zwischen den beiden Bergsteigerdörfern Chamonix und Zermatt. Die Vorgabe war, hohe Passübergänge zu überwinden und möglichst selten in die Täler abzusteigen. Damals hieß die Tour „High level road“ und wurde im Sommer zu Fuß, also ohne Skier, begangen. Erst als Ende des 19. Jahrhunderts das geniale Fortbewegungsmittel Ski Einzug hielt, wagte man die Durchquerung im Winter. Wer glaubt, es wäre bei dieser einen Route geblieben, der irrt. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von schönen Varianten, die alle von der ursprünglichen Route abgeleitet wurden und wie der Klassiker selbst logistisch gut durchdacht sind. Hütten für alle Tagesetappen und Varianten sind ausreichend vorhanden, und die Verpflegung ist, den Umständen entsprechend, gut. Lediglich das Platzangebot in so mancher Hütte ist nicht immer sehr üppig – zusammenkuscheln ist angesagt.
Die „Hauptflussrichtung“ – in der Hochsaison im April und Mai kann man oft wirklich von Flussrichtung sprechen – bewegt sich von West (Chamonix) nach Ost (Zermatt oder Saas-Fee). Die Tour ist natürlich auch von Zermatt oder Saas-Fee aus machbar.
Da stehen wir nun – Eva, Werner, Hannes, Ulf, Peter und ich – fünf Männlein und ein Weiblein mit glänzenden Augen und offenem Mund vor den schneebedeckten Granitriesen in Chamonix. Es ist Ende April, und es hat geschneit – für diese Zeit sehr viel und leider auch mit sehr viel Wind. Hochwinterverhältnisse. Respekt! Doch nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine Route, die über hohe Passübergänge mit steilen Hängen von einem Tal ins nächste führt.
Na gut, wir schauen uns die Lage mal vor Ort an und fahren mit der Seilbahn Les Grands Montets zum ersten Ausgangspunkt auf 3295 m.
Die Tage davor hatten wir die Möglichkeit, uns etwas an die Höhe anzupassen. Aus diesem Grund planen wir die erste Etappe ohne Zwischenstopp auf der Argentière-Hütte (was den Tourenstart sehr erleichtert). Die schier endlos erscheinenden Gletscherhänge des Glacier d’Argentière führen uns in den Argentière-Kessel. Das Gelände ist flach und aus lawinentechnischer Sicht eher unproblematisch. Doch der Blick auf die gegenüberliegende Seite zum steilen Anstieg zum Col du Chardonnet (3320 m) lässt unsere Befürchtungen wahr werden. Zu viel Schnee, zu viele Alarmzeichen, zu riskant. Okay – Planänderung! Wir streichen die erste Etappe, schwingen uns ins Auto und fahren zu unserem ersten Etappenziel Bourg-Saint-Pierre in der Schweiz.
Um 6 Uhr ein angespannter Blick aus dem Fenster – Postkartenwetter! Yes, heute geht’s los. Aufstieg durch das landschaftlich schöne Valsoreytal zur Valsoreyhütte (3030 m). Anstrengend, weil sehr lange, dafür landschaftlich beeindruckend geht es die 1400 Höhenmeter (Hm) hoch zur Hütte. Exponiert steht sie auf einem Felssporn am Fuße des Grand Combin.
Hinter der Hütte baut sich eine der Schlüsselstellen der Tour auf: der Anstieg zum Plateau du Couloir (3660 m). Die sehr steile Westflanke des Combin sollte schon in einem tadellosen Zustand sein, wenn man dort hinauf möchte. Die Schneedecke hat sich gesetzt, schaut mal fürs Erste ganz gut aus. Alle sind schon gespannt auf morgen!
Schlaf gut, John-Boy! Die Hütte ist klein, die Anzahl der TourengeherInnen groß. Eine Konstellation, die nur bedingt gut harmoniert. Von wegen „Schlaf gut!“. Nächte in solchen exponierten und überfüllten Hütten sind nur für jene wunderbar, die eines tiefen Schlafes mächtig sind. Ein Erlebnis für sich!
Wir sind schon eine Weile unterwegs, als die ersten Sonnenstrahlen weit hinter uns am Montblanc auftauchen. Wir sind auch nicht alleine, nein, es sieht so aus, als wolle die gesamte Hüttenbelegschaft die Westflanke stürmen. Jede(r) will die/der Erste sein, denn der Weg wird immer steiler und enger. Im letzten Drittel der Flanke, wo man über eine steile Querung auf das Plateau du Couloir gelangt, müssen die Ski sogar auf den Rucksack.
Eine grandiose Abfahrt von 1300 Hm über den Mont-Durand-Gletscher zur Chanrion-Hütte ist die Belohnung für den doch recht anstrengenden Morgensport in der schattigen und kalten Westflanke des Grand Combin.
Wetter – top, Verhältnisse - top! Somit haben wir zwei Möglichkeiten, unser Tagesziel, die Vignettes-Hütte (3160 m), zu erreichen: Variante A, die „Schlechtwettervariante“ mit dem Hatscher über den langen – nein ewig langen – flachen Otemma-Gletscher, wo es den ganzen Tag immer gleich dahingeht und es keine Abfahrt gibt. Oder Variante B, der abwechslungsreiche Anstieg über den Brenay-Gletscher mit der Besteigung der Pigne d’Arolla (3790 m) und einer tollen Abfahrt zur Vignettes-Hütte.
Hm – eine wirklich schwere Entscheidung. „Überraschenderweise“ fällt sie auf die schönere der beiden, die Variante B. Erst schlängeln wir uns in vielen Spitzkehren Richtung Col Nord des Portons, dessen Überstieg aufgrund der Steilheit nur mit geschulterten Skiern möglich ist. Dann geht’s über den langen, landschaftlich wunderbaren Glacier du Brenay auf die Pigne d’Arolla, wo wir das Wahrzeichen unseres Tourenzieles schon zum Greifen nahe sehen: das Matterhorn. Jetzt noch eine herrliche Abfahrt mit schneidigem Abschluss, und schon liegen 12 km und 1500 Hm Anstieg hinter uns.
In der Routenbeschreibung steht „Die Königsetappe“. Was war dann mit der letzten und der vorletzten …? Das Wetter – königlich, wie könnte es anders sein! Auf der heutigen Tagesordnung steht gleich nach dem Punkt „Begrüßung“ der Punkt „Überschreitung von drei Pässen“: Col de L’Evêque (3382 m), Col du Mont Brulé (3213 m) und Col de Valpelline (3557 m). Punkt drei lautet: „Riesige Abfahrt, vorbei am Matterhorn nach Zermatt.“
Wie jeden Tag checken wir unsere Lawinenverschütteten-Suchgeräte, und los geht’s. Die ersten 100 Hm nach der Hütte wie immer im Konvoi, der sich rasch auflockert und sich aufgrund der Dimensionen des Gebietes meist so weit auflöst, dass man nach einiger Zeit beinahe an eine einsame Tour mit „Geheimtippcharakter“ denken könnte.
Über den Col de L’Evêque geht’s regelrecht chillig drüber, die Sonne im Gesicht – herrlich! Aber Königsetappe? Nach dem x-ten Mal „Felle runter – Felle rauf“ zwingt uns der zweite Passübergang des Tages, der Col du Mont Brulé, die Skier wieder einmal mit den Steigeisen zu tauschen. Sehr steil geht es die letzten 100 Hm hinauf. Was von hier aus zu sehen ist, bekommt definitiv das Prädikat „Gefällt mir!“.
Langsam kommt der Gedanke auf, dass die Bezeichnung „Königsetappe“ doch gar nicht so abwegig ist. Relativ flach, dafür sehr lange geht’s zum dritten und letzten Übergang, zum Col de Valpelline. Dort sind alle Zweifel beseitigt – sie ist es: die Königsetappe! Die fleißigen Bühnenarbeiter haben sich für diese Szenerie wirklich Mühe gegeben: Matterhorn, Dent d’Hérens, Breithorn, Monte Rosa und wie sie auch alle heißen – grandios!
Für die Abfahrt über Stockji- und Zmuttgletscher heißt es nochmal Konzentration und Aufmerksamkeit, wollen wir doch nicht auf den letzten Metern in eine der unzähligen und teilweise riesigen Gletscherspalten stürzen.
Als schlussendlich die ersten japanischen Reisegruppen auftauchen und wir als „Mitbringsel“ auf Hunderten Fotos landen, wissen wir, es ist geschafft, wir sind am Tourenziel Zermatt angekommen. Cool war’s!
Text und Fotos: Martin Edlinger, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Abteilungsleiter Bergsport der Naturfreunde Österreich