Text: Marlies Czerny, Fotos: Andreas Lattner
Entschuldige, dass du zu Beginn dieser Geschichte zwischen dünnen Wellblechwänden auf einer rosaroten Brille Platz nehmen musst. Was sein muss, muss sein. Unter dir plätschert eine Dauerspülung aus Gletscherwasser, und die Türe steht sperrangelweit offen. Dieses stille Örtchen, in ungefähr 3220 Meter Höhe und zwanzig Schritte vom Arbenbiwak entfernt gelegen, gehört zu den aussichtsreichsten Klohäuschen der Alpen. Der direkte Blick auf die Matterhorn-Nordwand ist zu schön, um die Türe zu verschließen. Aber das muss dir nicht peinlich sein, man kennt das hier. „Wenn die Tür weit offen steht“, erklärte der ehemalige Hüttenchef Alfons Biner einmal, „ist besetzt.“
Schnell freunden sich die Besucher*innen des nicht bewirtschafteten Arbenbiwaks mit dem Häusel- und Hausbrauch an.
Doch nun zurück zum Start unserer Tour an einem wunderschönen Juni-Tag: Die 1700 Höhenmeter von Zermatt zum Arbenbiwak scheinen im Angesicht des Prachtpanoramas schneller zu verfliegen als andernorts. Die urigen Bergbauernhöfe in Zmutt zeichnen ein Idyll von einer Schweizer Bergkulisse, und linkerhand begleitet uns auf Schritt und Tritt prominent das Matterhorn. Hinter jeder Kuppe verändert es fließend seine Form. Langsam dreht sich das berühmte Toblerone-Motiv auf seine Nordwand-Ansicht. Und bald wandert auch das Obergabelhorn in unser Blickfeld.
An der Baumgrenze fallen Sonnenstrahlen durch Lärchen, ein mächtiger Wasserfall rauscht über Klippen. Die imposante Moräne, die Arbengandegge, zieht sich dann doch spürbar in die Länge. Sie lässt daran erinnern, wie vergänglich das Eis ist – und wie hoch gesteckt unser Ziel. Ein Klettersteig, der nach dem Rückgang des Arbengletschers bereits mehrmals adaptiert worden ist, bildet das steile Finale zum Arbenbiwak.
Unmittelbar hinter dem Arbenbiwak thront unser morgiges 4063 Meter hohes Ziel: das formschöne Obergabelhorn. Die Südwand, etwa 700 Meter hoch und aus glänzendem Gneis, leuchtet flankiert von seinen perfekten Graten verheißungsvoll zu uns herunter. Den linken Grat, den Westsüdwestgrat, haben wir als Aufstieg im Sinn; er findet in der Alpinliteratur als Arbengrat sagenhaft schöne Erwähnungen. Am rechten Grat, über den der Normalweg verläuft, wird es hinunter gehen.
In der topausgestatteten Kochnische des Arbenbiwaks bringen wir am Gasherd Wasser zum Kochen. Einsam und gemeinsam schlürfen mein Partner und ich am späten Nachmittag auf der Hüttenbank Instantkaffee, der uns mit dem Monte-Rosa-Panorama mindestens genauso gut wie ein echter Cappuccino drüben in Italien mundet.
Nicht ganz so gut schmeckt uns das Weckerklingeln um 2.30 Uhr. Als wir den Holzboden kehren und 50 Franken in die Gebührenbüchse stecken, herrscht draußen noch finstere Nacht. Nur schemenhaft erkennen wir die Konturen des Obergabelhorns, dieser perfekten Pyramide. Überrascht sind wir, dass uns die Zustiegsrampe nicht einmal Mitte Juni mit durchgehendem Stapfschnee empfängt. Es ist wohl nicht einfach, auf der gesamten Tour gute Verhältnisse vorzufinden. Vorsichtig klettern wir über instabile Blöcke, steigen auf unseren Frontalzacken durch die schräge Rinne aufwärts und bald schon hinaus auf den Arbengrat. Wir sind überwältigt.
Der Himmel hinter dem Monte Rosa in sanften Pastelltönen gepinselt, die Gletscher in Deckweiß gehüllt, und der kaltgraue Gneis vor uns am Grat wartet mit perfekten Schuppen und Rissen auf. Unser Herz schlägt schneller. Als die Sonnenstrahlen die höchsten Bergspitzen berühren, schießen wir nur noch ein Foto – denn nun müssen wir den Fokus auf die Türme vor uns richten. Der Gneis hält, was versprochen wurde, und die Kletterei ist an vielen Stellen exponiert. Völlig auf den Moment fokussiert fühlt es sich fast so an, mit dieser Szenerie zu verschmelzen. An der Schlüsselstelle fühlt es sich aber noch besser an, mit einem Seil verbunden zu sein. Der Tiefblick zum Durand-Gletscher ist unheimlich, die Kletterstellen im oberen dritten Schwierigkeitsgrad sind kurz und knackig. Bald steigen wir wieder genussvoller höher – bis es nicht mehr höher geht.
Eine kurze Firnschneide leitet zum Himmel. Ein erhabener Moment am frühen Morgen, stehen wir hier doch auf dem mittleren Zacken der Walliser Kaiserkrone, wie diese Gipfelkette von Schweizer Touristikern gerne verkauft wird. Endlich Sonne in unserem Gesicht, sie wärmt Körper und Geist. Wir genießen Frühstück Nummer zwei und den Ausblick auf die kaiserlichen Nachbarn – Zinalrothorn und Weißhorn, Dent Blanche und Matterhorn – und all die weiteren Gipfel, die keine Titel brauchen, um majestätisch zu sein. Wir liegen gut in der Zeit, um vor dem vorhergesagten Wetterumschwung rechtzeitig in einer Beiz in Zermatt zu sitzen.
Der lange Abstieg über den Ostnordostgrat und die Wellenkuppe darf nicht unterschätzt werden. Vor uns liegen am Normalweg einige Abseilmanöver zwischen grauer Südwand und weißer Nordwand. Schneidige Stellen im Firn und ein Gegenanstieg begleiten uns zur Wellenkuppe. Durchatmen wäre hier auf 3900 Metern zu früh. Ein mächtiger Felsriegel und der spaltenreiche Triftgletscher erfordern noch einmal volle Aufmerksamkeit. Erleichtert erreichen wir kurz vor Mittag die Rothornhütte (3198 m). Ihre Fensterläden sind leider noch verriegelt – Winterpause, obwohl bereits Verhältnisse wie im Hochsommer herrschen. Nach der heurigen Sommersaison, also ab Anfang September 2023, bleibt die Rothornhütte für immer geschlossen, da der Permafrost ihrem Fundament schwer zugesetzt hat. Eine moderne Hütte wird rund 30 Höhenmeter unterhalb der bestehenden neu errichtet.
Auf der Sonnenbank gibt’s für uns Jause Nummer drei und einen Rückblick. Mehr als für den reinen Reiz seiner Kletterei wird der Arbengrat mit seinem attraktiven Gesamtpaket in Erinnerung bleiben – und für das Örtchen mit der besten Aussicht. Der Arbengrat fordert den versierten Hochtourengeher und ist unter den klassischen Routen an Abwechslung und Länge nicht so schnell zu überbieten. Ich schlüpfe in meine kurze Hose und die Zustiegsschuhe, die ich im Rucksack hatte. Wir nehmen die restlichen 1600 Höhenmeter – noch immer mit Postkartenpanorama – nach Zermatt unter unsere Beine. Unten im Dorf angekommen, gönnen wir uns mit den übrigen Franken ein gut gekühltes Getränk. Was sein muss, muss sein.
Das Arbenbiwak (3225 m) am Fuß des Obergabelhorns bietet 15 Schlafplätze und eine kleine Küche. Das Hüttenbuch und so mancher Internetbericht verraten, dass die 15 Schlafplätze an vielen Sommertagen doppelt belegt sind. So gut besucht wie am Tag seiner feierlichen Eröffnung war es aber vermutlich nie wieder. 200 Gäste weihten am 9. Juli 1977 das Arbenbiwak ein, das liebevoll und klassisch aus Bruchsteinmauern gefertigt wurde. Es war ein Geschenk der Königlichen Niederländischen Alpenvereinigung an den Schweizer Alpen-Club (SAC) Zermatt. In den Niederlanden liegt ein Fünftel der Landesfläche unter dem Meeresspiegel – doch Bergleidenschaft kennt keine Höhenbeschränkung. 30 freiwillige Holländer schaufelten über drei Wochen alleine an den Zustiegen und arbeiteten den Schweizer Handwerkern zu.