Text: Marlies Czerny, Fotos: Andreas Lattner
Nicht hinauf, sondern hinunter. Mit einem seltsam grotesken Gefühl steigen die sechs Alpinistinnen des Naturfreunde-Alpinkaders in die nagelneue Gondel ein, die Besucher*innen zum Mer de Glace, dem größten Gletscher Frankreichs, bringt. Einst lag das Eismeer oberhalb von Chamonix in Reichweite der Bergstation der Montenvers-Zahnradbahn; doch der Gletscher am Fuße des Montblancs verliert Jahr für Jahr an Länge und Volumen, und die alte Zubringergondel hinunter zum Eis hatte schon lange nicht mehr ausgereicht. Alpinkader-Mitglied Elisabeth - Elli - Mayr kann es kaum glauben, wie sich die Landschaft hier in nur einem Jahr seit ihrem letzten Besuch verändert hat. „Als Folge der globalen Erwärmung verändert sich so viel und so schnell in den Alpen, dass die Forschung gar nicht richtig hinterherkommt“, erzählt Elli. Die 23-jährige Wahl-Tirolerin forschte für ihre Bachelorarbeit an der Universität Innsbruck über ein Tirol, das in einem gletscherfreien Hochgebirge den Hochtourensport im klassischen Sinne verlieren würde. Nur eine Sommer-Dystopie? „Man wird noch bergsteigen können, aber ganz anders und mit weniger Zielen“, meint Elli. Vielleicht zählt sie zur letzten Generation, die in Tirol Gletschertouren unternehmen kann.
Es ist Mitte Juli 2024, als die Alpinkader-Gruppe im Rahmen des Hochtouren-Moduls aus der erst im Jahr zuvor neu eröffneten Gondel aussteigt. Um zum Gletscher zu gelangen, müssen sie trotzdem einige hundert Meter über unangenehmen Moränenschutt gehen, weil sich das Mer de Glace schneller zurückzieht, als gebaut werden kann. „Erst schwinden die Gletscher, und dann tauen die Permafrostböden auf, welche die Berge zusammenhalten“, sagt Elli. So als würden sie zustimmen, rumpeln aus den Flanken ringsum Steine.
Die Veränderungen im Hochgebirge stellen uns alle vor neue Herausforderungen. Unberechenbaren Steinschlag, unüberwindbare Bergschründe, faulen Schnee und Sommerlawinen gab es zwar immer schon, aber sie werden in Zukunft häufiger unsere Begleiter sein.
Welcher der fünf Ausbildungstage war für Elli am spannendsten? Ihre Antwort fällt überraschend aus: Es war nicht jener Tag, an dem sie in spektakuläre Spalten sprang, um Rettungstechniken wie den Schweizer Flaschenzug zu üben; auch nicht jener Tag, an dem sie an der Aiguille du Moine abenteuerlich über dem Abgrund biwakierte. Es war jener Schlechtwetter-Tag, an dem das Alpinkader-Team in einem Café in Chamonix die Tourenplanung durchführte. Bergführerin Barbara Vigl begleitet die Alpinkader-Mitglieder als ihre Mentorin und öffnete ihren Zugang zu einer fundierten Planung. Für sie ist das Planen einer Tour wie das Zusammensetzen eines Puzzles: Sehr viele Faktoren müssen im Tal zusammengetragen werden, um sich ein bestmögliches Bild von der aktuellen Situation im Hochgebirge machen zu können. Nullgradgrenze, Neuschnee und das nächtliche Wiedergefrieren sind Schlüsselfaktoren. „Wie wichtig es ist zu wissen, wie die Wolkendecke in der Nacht verläuft und welche Auswirkungen das auf den Schnee hat, war extrem wertvoll“, beschreibt Elli ein Puzzleteil.
Bergsteiger*innen müssen das Hochgebirge neu lesen lernen. „Was ich so anspruchsvoll finde: Es verändert sich fast schneller, als man das aktuelle Wissen darüber gut etablieren kann, denn Jahr für Jahr ist etwas neu und anders“, erläutert Babsi Vigl und nennt als Beispiel die immer häufiger werdenden Extremwetterereignisse - etwa wie im heurigen Sommer jene Phasen, in denen die Nullgradgrenze in den Alpen über mehrere Tage in Folge weit über 4000 oder sogar über 5000 Metern Höhe lag. „Einen Tag halten das die Berge schon aus, aber bei mehreren Tagen taut es weiter auf, und heftiger Steinschlag setzt ein. Das führt teilweise dazu, dass gewisse Ab- und Zustiege, die jahrzehntelang Standard waren, auf einmal nicht mehr zur Verfügung stehen.“
Umso wichtiger sei es, stets lokale und aktuelle Informationen einzuholen. Somit ging auch das Planungspuzzle in die nächste Runde, als das Team auf der Couvercle-Hütte die Verhältnisse sah. Aus der geplanten Tour auf die Aiguille Verte wurde ein Plan B – der Schnee hätte am Nachmittag in brüchigen Gratpassagen der Südwest-Exposition Probleme bedeutet. Für Babsi eine „Red Flag“.
Großer Respekt und die Lust, sich neues Wissen anzueignen: Das fünftägige Hochtouren-Modul hat die Bergsteigerinnen für ihr weiteres Leben geprägt. Noch wichtiger als das „Was“ ist Elli das „Wie“. „Klar ist es cool, ein eigenes Auto zu haben; aber man kann es schon kritisch hinterfragen, wenn man damit jedes Wochenende in den Alpen herumjettet. Mich begeistern Klettertouren by fair means viel mehr, sogenannte Ecopoint-Touren (ecopointclimbing.com), bei denen die Hin- und Rückreise mit Öffis, dem Fahrrad, dem Boot oder zu Fuß erfolgen“, erklärt Elli. „Vor allem rund um Innsbruck kann ich so viele lässige Touren direkt vor der Haustüre machen - mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Rad, da muss ich nicht weit weg.“ Ein Wertewandel, ein Schritt in die richtige Richtung – auch wenn sich die Richtung auf Hochtouren nachhaltig ändern wird.
In der mittlerweile vierten Alpinkaderrunde werden 18–26-jährige bergsportbegeisterte Frauen und Männer in den verschiedenen Bereichen des Alpinismus ausgebildet und gefördert. Die Nachwuchs-Alpinist*innen verbessern ihre Fähigkeiten in den Modulen Klettern (Sport-, Alpin- und Eisklettern), Skitouren und Hochtouren.
Es gibt zwei Teams mit je 6 Teilnehmer*innen. Der Alpinkader Frauen startet im Frühling 2024 und läuft bis Ende 2025. Im Frühling 2025 startet der Alpinkader der Männer.