In der Evolution hat es sich als sinnvoll erwiesen, dass sich die Menschen in ihren Persönlichkeitszügen und körperlichen Eigenschaften unterscheiden. Und so hat es sich auch als gut erwiesen, dass es eine gewisse Anzahl von Individuen gibt, die für Neuerkundung und Innovation zuständig sind. Immer wenn sich diese Menschen mit für sie faszinierenden Dingen, Neuartigem und Komplexem beschäftigen dürfen und dabei viel sensorischen Input haben, geht es ihnen besonders gut. Das Gehirn schüttet dann im Belohnungszentrum viel Dopamin und Endomorphine aus. Wenn allerdings das Gegenteil passiert, sie sich also mit Dingen beschäftigen müssen, die für sie uninteressant sind, wenig Neuartiges bieten oder gar Routine sind, treten für diese Menschen psychisch schwer aushaltbare Zustände ein. Sie werden sehr unruhig und versuchen, sich den für sie neurobiologisch notwendigen Input (das Belohnungszentrum ist nicht dem Willen unterworfen!) zu holen: Buben zum Beispiel vor allem über die Motorik (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung = ADHS) und Mädchen eher über die Fantasie (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder -störung = ADS).
Man kann das Belohnungssystem austricksen und Dopamin über ein Medikament besser verfügbar machen – Ritalin funktioniert oft gut, ändert aber natürlich grundsätzlich nichts.
Für die Entwicklung der Menschheit sind Personen sehr wichtig, die innovativ und impulsiv sind. Wachsen diese aber in einer Umwelt auf, die ihnen wenig Halt gibt, ihre Vorzüge nicht zu schätzen weiß und sie sogar abwertet, werden aus diesen tollen Eigenschaften Schwierigkeiten, sobald die Impulse nicht kontrollierbar sind und die Aufmerksamkeit für Uninteressantes überhaupt nicht steuerbar ist.
Da kommt das Klettern ins Spiel. Denn Therapie im Bereich ADHS muss immer auch das Interesse der Kinder und Jugendlichen wecken, weil sie per Neurobiologie dafür geschaffen sind, bei Dingen, die sie interessieren, besonders aufmerksam zu sein. Damit kann ich sie sozusagen „fangen“. Und das Klettern schafft dies oft, wenn es ihnen etwa auch den Freiraum bietet zu experimentieren (das ist ihre evolutionäre Aufgabe!). Therapeutisches Klettern setzt auf Basis dieser Freude am Tun an und bringt oft therapeutische Aspekte, ohne dass die Kinder und Jugendlichen es merken oder das Klettern als Therapie empfinden.
Um eine schwierige Route zu schaffen, ist es oft notwendig, sich sehr präzise und kontrolliert zu bewegen. Bei manchen Kletterspielen ist es wichtig, die Impulse zu beherrschen, um zu gewinnen; aber das Spiel selbst macht Spaß! Beim Sichern einer anderen Person (natürlich immer unter Kontrolle der Therapeutin/des Therapeuten) muss man aufmerksam sein, obwohl gerade nichts Spannendes passiert – was für eine Herausforderung für unsere Innovations-/Kreativitätsmeister! Aber wenn ich als Therapeut das Gefühl der Verantwortung gut einbringe, werden sie hier Fortschritte machen.
Diese meist im Körperlichen gemachten Fortschritte transferieren sich auch aufs Denken und auf Bereiche der Psyche; die beim Klettern erworbenen Fähigkeiten kommen somit auch in der Schule zum Tragen. Wobei ein Schulsystem, das auf besondere Bedürfnisse seiner Schülerinnen und Schüler wenig eingeht, für Individuen, die auf Kreativität und Neuerkundung programmiert sind bzw. im Gehirn dafür belohnt werden, immer eine große Herausforderung sein wird.
Text: MMag. Alexis Zajetz, Psychotherapeut, Instruktor Sportklettern und Klettern alpin bei den Naturfreunden Österreich
Psychologische Therapie und Ergotherapie
In diesem Bereich arbeitet man in erster Linie mit Kindern: Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen sowie Entwicklungs-, Verhaltens- und emotionalen Störungen können beim Klettern hervorragend betreut und behandelt werden.
Kinder und Erwachsene mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung, deren neuromuskuläre Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, können laut einer Studie von D. Lazil und F. Bitmann grandiose Erfolge erzielen.
Pädagogik
Auch im pädagogischen Bereich ist Klettern besonders gut einzusetzen. Im Rahmen eines mehrperspektivischen Unterrichts kann man therapeutisches Klettern schon in der Unterstufe sehr erfolgreich betreiben.
Klettern verbessert das Selbstbewusstsein und die Selbsteinschätzung von Kindern, die sich im Alltag wenig zutrauen. An der Kletterwand können sie sich in einem sicheren Umfeld ausprobieren sowie ihre Grenzen testen und erweitern, positive Erfahrungen sammeln und damit ihr Selbstbewusstsein stärken. Das wirkt sich auch auf andere Lebensbereiche positiv aus.
Markus Schauer, Instruktor Sportklettern, Dipl. Physiotherapeut und Osteopath
Die Naturfreunde bieten im Bereich Klettern und Pädagogik folgende Fortbildungen: