„Sonnenschein pur und blauer Himmel so weit das Auge reicht! Lasst uns doch am nächsten Wochenende eine Skitour machen!“, meint Trixi, eine liebe Freundin und noch dazu eine sehr erfahrene Tourengeherin, zu mir und meinen Freunden. Wir sind eine Gruppe von sechs begeisterten Tourengeherinnen und -gehern und stürzen uns sofort auf die Planung. Nach ausgiebiger Recherche auf dem Tourenportal der Naturfreunde Österreich www.tourenportal.at entscheiden wir uns für eine Skitour von Kolm-Saigurn auf den Hocharn, die alles bietet, was das Herz begehrt. Der Hocharn (3254 m) liegt in den Hohen Tauern und ist die höchste Erhebung der Goldberg-Gruppe; er ist für viele der schönste Skigipfel der Ostalpen. Ideale Hänge mit fast 1700 Höhenmetern und eine hervorragende Aussicht machen ihn zu einem begehrten Ziel. Besonders im Frühjahr lockt der Hocharn – aufgrund der Schneesicherheit - viele Tourengeherinnen und -geher an.
Um Gefahren im winterlichen Gebirge besser einschätzen und bewerten zu können, ist es sinnvoll, bestimmte Richtlinien zur risikobewussten Entscheidungsfindung zu verwenden. Die Basis dafür ist die Beurteilung der Wetter-, Gelände- und Schneeverhältnisse, des Lawinenlageberichts und der persönlichen Faktoren. Mit dem Ausbildungs- und Entscheidungskonzept w3der Naturfreunde Österreich kann man folgende drei Fragen abklären:
- Was ist gefährlich?
(Altschneedecke, Neuschnee, Triebschnee, Temperatur, Nassschnee)
- Wo ist es gefährlich?
(Hangneigung, Geländeform, Exposition, absolute Höhe, Einzugsbereiche, Lage)
- Wer trifft Entscheidungen?
(soziale und subjektive Faktoren)
Wir arbeiten also die w3-Checkliste „Tourenplanung“ ab und studieren die topografische Karte sowie Tourenberichte und informieren uns über das Gelände und mögliche Gefahrenstellen. Skitourenberichten zufolge ist der Aufstieg zum Hocharn-Gipfel in ungefähr fünf Stunden zu bewältigen und mit dem Schwierigkeitsgrad III bewertet. Das bedeutet: Es gibt freie Hänge mit einer Neigung von ca. 35 Grad mit kurzen steileren Stellen und kurzen schmalen Rinnen (z. B. Einfahrten). Kontrollierte engere Schwünge sollten – auch bei schlechten Schneeverhältnissen – beherrscht werden. Hohes skitechnisches Niveau ist erforderlich, teilweise besteht Absturzgefahr (felsdurchsetztes Gelände, steiler, dichter Wald, etc.).
Vor unserem Tourenstart gab es eine anhaltende Schönwetterperiode, was zu einer gut verfestigten Schneedecke und zur Bildung eines tragfähigen Schmelzharschdeckels geführt hatte. Zwei Tage vor der Tour kommt es jedoch aufgrund einer Kaltfront zu geringem Schneefall mit heftigen Winden. Wir diskutieren die Wettersituation. Sollen wir die Tour wirklich machen? Wir warten den aktuellen Wetter- und Lawinenlagebericht ab. Die Lawinenwarnzentrale beurteilt die Situation mit „mäßiger Lawinengefahr“ – Lawinengefahrenstufe 2. Das heißt, dass die Schneedecke an einigen Steilhängen nur mäßig verfestigt ist, ansonsten allgemein gut verfestigt. Das Auslösen einer Lawine ist insbesondere bei einer großen Zusatzbelastung, vor allem auf den angegebenen Steilhängen möglich. Große, spontane Lawinen sind nicht zu erwarten.
Für den Tourentag wird jedoch eine Wetterbesserung mit schwachen Winden in den Gipfelbereichen vorhergesagt; die Null-Grad-Grenze soll bei 2500 m liegen. Perfekt! Somit steht der Tour nichts im Wege.
Um für die Tour ganz fit zu sein, machen wir uns schon am Vortag auf den Weg zum Naturfreunde-Haus Kolm-Saigurn* (1600 m), wo wir gemütliche Zimmer beziehen und uns der Hüttenwirt Hermann Maislinger ein nahrhaftes Abendessen zubereitet. „Um unseren Energiespeicher aufzuladen“, so Maislinger.
Wir machen uns schon in der Morgendämmerung auf die „Königstour“ von Kolm-Saigurn. „Denn nur wer früh dran ist, hat die Chance auf super Firn und kann die lange Abfahrt so richtig genießen“, meint der Hüttenwirt. Abgesehen davon steigt bei der aktuellen Wettersituation die Lawinengefahr mit der Tageserwärmung.
Bevor wir starten, gehen wir noch einmal das Entscheidungskonzept w3der Naturfreunde durch und stellen uns die Fragen: Was ist heute gefährlich? Wo ist es gefährlich? Wer trifft die Entscheidungen, und welche Risiken sind damit verbunden? Schließlich entscheiden wir uns alle für ein GO!
Die tief verschneiten Berge der Goldberg-Gruppe rings um die Sonnblick-Basis bieten eine grandiose Szenerie in Weiß. Klare, frische Luft und die herrliche Schneelandschaft – ein echter Hochgenuss!
Vom Naturfreunde-Haus Kolm-Saigurn folgen wir zunächst ein Stück dem flachen Tal auswärts. Dann wenden wir uns nach Osten und erreichen eine steilere Passage. Wir schätzen die Steilheit auf ca. 35 Grad, eine Hangneigung, bei der eine risikobewusste Beurteilung der Gesamtsituation und erhöhte Vorsicht angebracht sind. Doch die Schneedeckenoberfläche ist gut verfestigt, und die Geländeformen sind günstig (der Aufstieg ist über einen Geländerücken möglich); und es gibt in diesem Geländeabschnitt keine Schneeverfrachtungen. Die Steilstufe bedeutet also für uns kein erhöhtes Risiko. Deshalb fällt auch die Entscheidung für den weiteren Aufstieg. Mit geländeangepasster Routenwahl und bei gleichbleibender Neigung der Aufstiegsspur erreichen wir durch die Lacheggklamm die weiten Osthänge des Hocharns. Die Route führt angenehm, aber stetig steigend im Pilatuskees höher, ehe wir – nochmals etwas steiler, jedoch bei gleichen Schneeverhältnissen und Geländebedingungen – zum allmählich flacher werdenden Hocharnkees hinaufsteigen.
Wir sind nun schon seit drei Stunden unterwegs, und es zeigen sich die ersten Zeichen von Ermüdung. Johann klagt sogar über Erschöpfung. Sofort machen wir eine Pause. Wir überlegen sogar, die Tour abzubrechen. Glücklicherweise hat Johann „nur“ einen sogenannten Hungerast, also akuten Kohlenhydratmangel. Nach einer kurzen Pause und ausreichenden Zufuhr von Kohlenhydraten erholt sich Johann, und zur Freude der ganzen Gruppe geht es weiter!
Mithilfe der Karte und unserer GPS-Geräte mit dem eingespeicherten Tourenverlauf orientieren wir uns Richtung Gipfel. Während des weiteren Aufstiegs beobachten wir uns gegenseitig und sprechen auch über den Einfluss von subjektiven Faktoren wie Selbsteinschätzung, Wunschdenken, Erfahrungen, Sicherheits- und Bauchgefühl. Gemeinsam kommen wir zum Schluss, dass diese Faktoren in vielen Fällen einen wesentlichen Einfluss auf Entscheidungen haben.
Wir erreichen bei besten Verhältnissen den Gipfel und haben einen herrlichen Blick auf den Hohen Sonnblick und den Großglockner.
Vor der Abfahrt bekommen wir von Trixi genaue Instruktionen: Welche Abstände wir einhalten sollen, in welchem Bereich der Spur wir uns bewegen dürfen und wie wir uns der Gruppe annähern sollen.
Die Fahrt über das Hocharnkees ist angesichts des Traumpanoramas ein doppeltes Vergnügen! Es folgt eine grandiose, fast endlos scheinende Abfahrt über einen breiten Gletscher nach Kolm-Saigurn, die vom Blick auf die steile, imposante Nordwand des Hohen Sonnblicks begleitet wird.
Kurz vor einem Übergang zu einer steilen Rinne machen wir halt. Trixi hat bereits bei der Planung diese Stelle auf der Karte gesehen. Sie schätzt die Neigung der vor uns liegenden schattseitigen Rinne auf mehr als 30 Grad ein, zusätzlich ist Triebschnee zu erkennen. Das bedeutet, dass auf dem harten Schmelzharschdeckel ein Schneebrett liegt, das sich bei Belastung möglicherweise lösen und als Lawine abrutschen kann. Trixi wählt daher eine andere Abfahrtslinie. Wir umfahren die risikoreiche Geländestelle einzeln und treffen uns beim vorher vereinbarten Sammelpunkt. Alle sind sehr froh, dass wir eine so erfahrene Freundin haben.
Der Rest der Abfahrt verläuft wunderbar, und bereits zu Mittag sitzen wir müde, aber sehr zufrieden auf der Sonnblick-Basis in der wärmenden Frühlingssonne. Hüttenwirt Hermann Maislinger verwöhnt uns mit deftiger Hausmannskost. So muss eine traumhafte Skitour enden!
Das Konzept w3war uns für diese sehr schöne, aber doch auch anspruchsvolle Skitour eine große Hilfe und für die Entwicklung unserer Entscheidungsprozesse besonders wertvoll. Das ständige Durchgehen der einzelnen Punkte während der Tour hat unsere Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Faktoren gebündelt und damit eine perfekte Grundlage für das Sammeln wertvoller Erfahrungen und für risikobewusste Entscheidungen geschaffen.
Fußnote:
* Das Naturfreunde-Haus Kolm-Saigurn verfügt über 18 Betten in Zimmern mit Dusche und WC, 18 Betten in Zimmern mit fließendem Wasser und ein Lager mit 13 Schlafplätzen; Etagendusche und WC befinden sich am Gang. www.kolm-saigurn.naturfreunde.at
Die Unterlagen über das Entscheidungskonzept w³ werden Interessierten gerne zugeschickt. Naturfreunde-Mitglieder erhalten die Unterlagen gratis, der Preis für Nichtmitglieder beträgt 10 Euro zzgl. Porto.