Piep-piep-piep-piep - pieps! Der letzte hohe Piepston zeigt an, dass der Wettkampf für Rita, 12 Jahre alt, begonnen hat. Sie nimmt eine Karte aus der Kartenbox D-12, wirft einen Blick darauf, dreht sie etwas, schaut noch einmal genauer, und schon läuft sie los, vorbei am Postenschirm, der den Standort des Startdreiecks auf der Karte anzeigt. Noch ein kurzer Blick - bei der Weggabel wählt sie den rechten Weg, und dann ist sie mit anderen Läuferinnen und Läufern mit derselben Startzeit im Wald verschwunden. Die Läuferinnen und Läufer mit der nächsten Startzeit machen sich nun bereit.
Wir befinden uns am Start eines Austria-Cup-Laufes, der zur österreichischen Rangliste zählt. Die ungefähr 600 Teilnehmenden im Alter von zehn bis siebzig Jahren messen sich in unterschiedlichen Alterskategorien und getrennt nach Damen und Herren.
Beim Orientierungslauf sind mit Karte und Kompass mehrere Punkte im Wald anzulaufen, die mit orange-weißen Postenschirmen markiert sind. Die Herausforderung liegt darin, den Weg zu diesen Punkten finden. Die Standorte dieser Punkte, Posten genannt, sind in einer speziellen Orientierungslaufkarte eingezeichnet. In der Regel sind die Posten zu einer Bahn verbunden und müssen in der vorgegebenen Reihenfolge angelaufen werden. Ziel beim Orientierungslauf ist es, die komplette Bahn in der schnellsten Zeit zu bewältigen.
Beim Orientierungslauf, auch kurz OL genannt, gibt es zwei Komponenten: Das O steht für Orientierung. Dazu gehört nicht nur der ständige Kontakt zur Karte, um zu wissen, wo man sich gerade befindet, sondern auch das Planen der Route zum nächsten Punkt. Eine gute Bahnlegung bietet mehrere Routen zur Auswahl an: Eine ist zum Beispiel länger, aber mit mehr Sicherheit beim Orientieren, weil öfter entlang von Wegen und anderen Leitlinien gelaufen wird, eine andere ist vielleicht kürzer und direkter, aber riskanter, weil es nur mithilfe des Kompasses quer durch das Gelände geht. O steht also für den kognitiven Teil dieses Sports.
Das L steht für Laufen, für die physische Anforderung, für Kondition und Geschicklichkeit. Das Laufen in unebenem Gelände, bergauf, bergab, immer wieder mit Blick auf die Karte (Erfahrene schaffen das im Laufen ohne Geschwindigkeitsreduktion) ist etwas ganz anderes als Laufen auf einer Laufbahn oder Straße.
Beide Komponenten beeinflussen sich gegenseitig: Läuft ein Orientierungsläufer für seine konditionellen Möglichkeiten zu schnell, werden sich bei der Orientierung Fehler einschleichen: Die Wahrnehmung verengt sich, die Interpretation von Karte und Gelände wird nicht mehr so gut funktionieren. Schließlich ist er abseits der schnellsten Route, vielleicht weiß er eine Zeitlang gar nicht mehr, wo er sich genau befindet. Ein schneller Läufer ist nicht unbedingt schneller als ein guter Orientierungstechniker, der konditionell schwächer ist. Nur ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den physischen und orientierungstechnischen Fähigkeiten führt im Orientierungslauf zu einer guten Platzierung. Auch Spitzenläuferinnen/-läufer machen immer wieder Fehler.
Das Schöne am Orientierungslauf ist aber, dass jede(r) Erfolg hat! Es ist schon ein Erfolgserlebnis, den ersten Posten zu finden und dann den nächsten und nächsten … Ein Orientierungslauf setzt sich aus vielen kleinen Erfolgserlebnissen zusammen. Kein Orientierungslauf gleicht einem anderen, da die Bahnen immer neu sind. Jeder Lauf ist eine neue Herausforderung für Körper und Geist!
Orientierungslauf ist eine Sportart für die ganze Familie. Es gibt nach Alter und technischem Können unterschiedliche Bahnen - für AnfängerInnen, LeistungssportlerInnen und auch ältere Menschen werden passende Strecken angeboten. AnfängerInnen etwa laufen auf technisch leichten Bahnen, bei denen die Posten sich meist entlang von Wegen befinden. SchülerInnen haben eine 3 km lange Strecke zu bewältigen, LeistungssportlerInnen müssen in der Langdistanz mit einer Siegerzeit von 90 Minuten rechnen.
Orientierungslaufkarten unterscheiden sich von Wanderkarten. Meist wird ein Maßstab von 1 : 10.000 verwendet. Eine OL-Karte stellt das Gelände detailgenau dar: Höhenschichten mit einem Höhenunterschied von 5 m stellen die Geländeoberfläche mit allen Gräben, Mulden, Nasen, Hügeln und Kuppen dar. Eingezeichnet sind auch (Wander-)Wege und Forststraßen. Objekte wie Grenzsteine, Hochsitze und Futterkrippen sind mit speziellen Signaturen angegeben. Die Darstellung des Bewuchses, des Dickichts, von Wiesen und Kahlschlägen in verschiedenen Abstufungen soll gewährleisten, dass alle OrientierungsläuferInnen die gleichen und richtigen Informationen für ihre Routenentscheidungen haben und wissen, was sie erwartet.
In der Zwischenzeit ist Rita im Ziel eingelangt. Ihre Zeit ist sehr gut. Sie diskutiert mit ihren Alterskolleginnen die Laufstrecke; jede erzählt, wo sie Fehler gemacht hat.
Rita ist Mitglied der Jugendgruppe der OL-Gruppe der Naturfreunde Wien, die schon seit Jahren eine altersgerechte Jugendbetreuung anbieten. Der Sport Orientierungslauf hat bei den Naturfreunden bereits eine lange Tradition: Viele Naturfreunde-Mitglieder waren schon österreichische Staats-, Jugend- und SeniorenmeisterInnen. Die Naturfreunde veranstalten jedes Jahr mehrere OL-Kurse für Jung und Alt, für Breiten- und SpitzensportlerInnen. Wer sich also für diese faszinierende Sportart interessiert, ist bei den Naturfreunden herzlich willkommen!
Text: Wolfgang Pietsch, Bundesreferent Orientierungslauf der Naturfreunde Österreich, Fotos: Ferri Gassner