Text und Fotos: Christine Sonvilla und Marc Graf
Es klingt, als würde jemand über die Öffnung einer leeren Bierflasche pusten. Tatsächlich stammt der Ton von einer Rohrdommel, die farblich perfekt angepasst durchs Schilfgewirr im Osten des Neusiedler Sees stakst. Kaum zu glauben, dass die Gegend rings um den See einst mit Eichenmischwäldern bedeckt war. Das ist lange her, denn nach großflächigen Rodungen grasten in dem Gebiet über viele Jahrhunderte Rinder, Pferde, Schweine, Ziegen und Schafe. Das war die Geburtsstunde der menschengemachten Steppe. Diese „Puszta“ wird seit den 1990er-Jahren grenzüberschreitend geschützt. Auf österreichischer Seite umfasst der Nationalpark Neusiedler See – Seewinkel sieben Gemeinden, ein Mosaik aus Wiesen, Salzlacken und Sümpfen sowie den zweitgrößten zusammenhängenden Schilfgürtel Europas.
Im Seewinkel kann man gemütlich durch die Landschaft rollen. Das über 500 Kilometer ausgedehnte Radwandernetz – größtenteils asphaltiert, manchmal geschottert – eignet sich für die ganze Familie. Idealer Ausgangspunkt für mehrtägige Touren ist Illmitz. Die Ortschaft liegt auf 117 Metern Seehöhe. Bis nach Weiden am See im Norden sind atemberaubende zehn Meter Steigung zu bewältigen, und um den tiefsten Punkt Österreichs zu erreichen, der ein Stück weiter südöstlich in der Umgebung von Apetlon liegt, geht es drei Meter „bergab“. Wahlweise schwingt man sich auf den Neusiedler-See-Radweg B10 oder Lacken-Radweg B20, baut hie und da einen Güterweg ein, und schon ist man mitten im Puszta-Erlebnis.
Mindestens zwei Tage sollte das Zeitbudget für radelnde Entdeckungen betragen. Am besten beginnt man mit dem Herzstück des Seewinkels, mit seinen Lacken. Um 1850 soll es noch rund 140 Salzlacken gegeben haben, heute stehen wir bei 30 bis 45. Geprägt sind sie allesamt von Niederschlag und Verdunstung. Während sie im Hochsommer oft austrocknen, kann im Frühjahr das Wasser bis zu 70 Zentimeter tief sein. Wichtig ist das deswegen, weil die Lacken die Nahrungsgrundlage für mehr als 350 verschiedene Vogelarten bieten. Viele von ihnen sind Zugvögel, die den Seewinkel als Rastplatz nutzen, rund die Hälfte verbringt hier auch die Zeit der Brut. Wegen der Vogelwelt und der noch milden Temperaturen vor der großen Sommerhitze eignen sich vor allem April und Mai für Touren mit dem Drahtesel.
Säbelschnäbler, Flussregenpfeifer oder Rotschenkel lassen sich nur ein paar Radkilometer entfernt von Illmitz am Darscho sowie an der Neubruch- und Fuchslochlacke beobachten, entlang des B20. Der Apetloner Badesee, direkt angrenzend, zählt zwar nicht zu den Salzlacken, aber wegen der dort brütenden Turmfalken und Waldohreulen ist er ebenfalls einen „Ausritt“ wert.
Und wo sind jetzt die Weißen Esel? Ebenfalls am B20, nur in der anderen Richtung. Albinos, denen jegliche Farbpigmente fehlen, sind die Esel aber keine. Die Tiere haben ein weißlich-hellgelbes Fell und blaue Augen. Weltweit gibt es nur rund 300 Tiere der bedrohten Haustierrasse. Etwa 20 davon leben im Seewinkel, und zwar im Sandeck, das den südlichsten Ausläufer des sandigen Seedamms darstellt, der über 25 Kilometer von Weiden am See bis hierher reicht und auf ein Alter von 2000 Jahre geschätzt wird. Entstanden ist er, weil im Winter Eisplatten durch die dominierenden Winde aus Nordwest in Richtung Ostufer getrieben und dort zu teils meterhohen Wällen aufgetürmt wurden.
Unmittelbar an das Sandeck, aber mit einem kleinen Rad-Umweg, grenzt das ökologisch bedeutende Gebiet Neudegg. Hier finden sich weitläufige Weiden und Mähwiesen, die zeitweise unter Wasser stehen und von rund 500 Graurindern sowie einigen Wasserbüffeln abgegrast werden. Mitunter streifen die Tiere nur als ferne Punkte erkennbar durchs Gelände, manchmal aber lassen sie sich sogar aus nächster Nähe beobachten. Sie sorgen dafür, dass dem Schilf Einhalt geboten wird und verschwunden geglaubte Pflanzen eine Chance bekommen.
Am späten Nachmittag und Abend radelt es sich am besten entlang der Illmitzer Seegasse, die eine Schneise durch das Schilfmeer schneidet. Haubentaucher tummeln sich in den dazwischenliegenden Wasserflächen. Bartmeisen hocken auf den Halmen. Teichrohrsänger trällern ihre Lieder. Und ein besonderes Highlight: Ab April queren immer wieder Trupps von jungen Graugänsen die Flaniermeile.
Statt sternförmig auszuschwärmen, empfiehlt sich am nächsten Tag eine geradlinigere Route. Entlang des Ostufers des Neusiedler Sees geht es vorbei an den Stinkerseen geradewegs in die Hölle! Gut möglich, dass die Bezeichnung auf die hohen Sommertemperaturen anspielt, die den Landwirten höllische Arbeitsbedingungen bereiteten. Manchmal riecht es sogar „höllisch“ nach Schwefeldämpfen. Verantwortlich sind dafür aber nicht die Stinkerseen, sondern mehrere artesische Brunnen, die unterhalb des Grundwasserspiegels liegen und schwefelreiches Tiefenwasser in die Landschaft gießen. Dennoch lässt es sich in der Hölle gut verweilen. Ein 16 Meter hoher Aussichtsturm bietet einen traumhaften Weitblick, Rastplätze laden zum Picknicken ein, und ein Heuriger verwöhnt die RadlerInnen mit regionalen Köstlichkeiten.
Am Südrand von Podersdorf lohnt sich ein kleiner Abstecher von der Hauptroute zur einzigen noch verbliebenen Windmühle des Seewinkels. Das geschäftige Podersdorf hinter sich lassend, durchquert man – mittlerweile auf dem Neusiedler-See-Radweg B10 – alsbald die größte zusammenhängende Wiesenfläche des Burgenlandes, die Zitzmannsdorfer Wiesen, in denen im Mai tiefviolette Zwergschwertlilien prangen. Kiebitze, Große Brachvögel und Uferschnepfen beziehen ihre Brutplätze in dem Labyrinth aus Flachmooren, Salzsümpfen, Feuchtwiesen und Trockenrasen.
Auch wenn man oft gegen den Wind ankämpfen muss, zahlt es sich von Mitte Mai bis Anfang August aus, weiter in den Norden zu radeln. Knapp östlich von Weiden am See liegt auf einer kleinen Anhöhe hinter den Weinreihen eine helle Abbruchkante, die seit vielen Jahren von Bienenfressern bevölkert wird. Die bunten Zugvögel kommen alljährlich auf Besuch in den Winkel im äußersten Osten unseres Landes. Am Retourweg lässt einen die Brise aus Nordwest dann quasi fliegen; in Podersdorf bremst man allerdings am besten ab, denn nirgendwo sonst als beim Leuchtturm lässt sich der Sonne beim Versinken im See besser zusehen.