Text und Fotos: Christine Sonvilla
Lose Steine, ausgedehnte Schotterflächen und schroffe Felswände. Dafür ist das Gesäuse bekannt. Die „Universität des Bergsteigens“, wie es auch gerne genannt wird, hat herausragende Alpinisten hervorgebracht. Auf ihren Pfaden lässt es sich wandeln, ohne gleich selbst in einer Wand zu hängen. Wie das geht? – Mit einer Tour zur Haindlkarhütte von Gstatterboden aus.
Die Eckdaten der Tour klingen nicht allzu herausfordernd: 2,5 km Wegstrecke, 515 Hm und etwa 1,5 Stunden Gehzeit. Das ist eine Wanderung für die ganze Familie, die auch erlaubt, ein wenig in die Alpingeschichte des Gesäuses einzutauchen.
Wie der Name Haindlkar schon verspricht, erfolgt der Aufstieg in einem sogenannten Kar. Kare sind kesselförmige Eintiefungen unterhalb von Gipfel- und Kammlagen, die durch die Aktivität kleiner Gletscher ausgeschürft wurden. Über eines verfügen sie zuhauf: Schotter. Zum Überwinden einiger Stellen braucht man Trittsicherheit.
In erster Linie stellt die Wanderung, die nur selten steil verläuft, aber eine Genusstour dar. Sie führt durch ein abwechslungsreiches Gelände, beginnend mit einem Waldabschnitt, an dessen Wegrändern im Frühsommer allerlei Orchideen gedeihen. Es zahlt sich daher aus, nicht nur die imposanten Felswände der Hochtorgruppe, auf die man zuwandert, im Auge zu behalten, sondern auch die blühenden Besonderheiten rechts und links des Weges. Vorbei an Wasserläufen, die zwischendurch eine willkommene Erfrischung bieten, geht es hinein in die für das Gesäuse so markanten Schotterpassagen. Dazwischen spenden riesige Felsblöcke, die entlang der allmählich karger bewachsenen Wanderroute auftauchen, ein wenig Schatten.
Trotz seiner Kürze und relativen Einfachheit, sollte die Tour nicht unterschätzt werden. Nach intensiven Regenfällen gerät das Kar regelmäßig in Bewegung, was in den schotter- und steinreichen Passagen immer wieder zu leichten Änderungen im Wegverlauf führt.
Der Ausblick auf die Wände von Planspitze, Rosskuppe, Dachl, Hochtor und Festkogel, die über einem thronen, zieht einen regelrecht nach oben. Wobei schwer zu sagen ist, welcher Ausblick einen mehr in den Bann zieht. Dreht man sich beim Aufstieg nämlich um, beeindruckt die massige Gestalt des gegenüberliegenden Großen Buchsteins mit dem Buchsteinhaus der Naturfreunde zu seinen Füßen. Während die Tour zur Haindlkarhütte, die „nur“ auf 1121 m liegt, ein heißer Tipp für den Beginn der Wandersaison ist, zahlt es sich aus, für eine Tour zum 1571 m hoch gelegenen Buchsteinhaus einen Tick länger zu warten. Damit der Schnee auch sicher abgeschmolzen ist. Am Weg durchs Haindlkar kann man also schon für den Anstieg von Gstatterboden zum Buchsteinhaus trainieren. Dieser fällt mit 970 Hm und 2,5 bis 3 Stunden Gehzeit nämlich deutlich knackiger aus.
Nach dem Passieren der alten, 1923 erbauten Haindlkarhütte erreicht man die neue Hütte, die seit 1960 mehr Platz bietet und vom 1. Mai bis 12. September geöffnet ist. Von ihrer Terrasse schweift der Blick zu den imposanten Gesäuse-Nordwänden, in denen Klettergeschichte geschrieben wurde. Die Jahn-Zimmer-Route etwa, die durch die steile Hochtor-Nordwand führt, zählt mit einer Wandhöhe von 600 Metern, einer Kletterstrecke von 1000 Metern und einem Schwierigkeitsgrad 2 bis 3+ zu den großen Kletterklassikern der Ostalpen. Erstbestiegen wurde die Route 1906 von dem berühmten Alpinisten und Maler Gustav Jahn und seinem Kletterpartner Franz Zimmer, die hier – von der Terrasse der Haindlkarhütte zu erspähen – alpinhistorische Spuren hinterlassen haben.
Die Haindlkarhütte ist nicht nur ein Stützpunkt für Klettertouren, sie dient auch als Ausgangspunkt für Naturentdeckungen im Umkreis. Das felsige Terrain mutet bis auf die Latschen vegetationslos an, es lohnt sich aber ein zweiter Blick. Die harschen Lebensbedingungen auf dem schottrigen Untergrund bringen eine Reihe angepasster Spezialisten hervor, die nur hier im Gesäuse und in wenigen umliegenden Gebieten vorkommen. Dazu zählen etwa die Zierliche Federnelke, die von Mai bis Juli blüht, und der Nordöstliche Alpen-Mohn mit seinen fragilen weißen Blüten. Beide Pflanzen sind stark gefährdet. Daher gilt: Nur anschauen und fotografieren!
Früh am Morgen gelingen oft Beobachtungen von Gämsen. Meist verraten sie ihren Aufenthaltsort akustisch, wenn sie durch ihre gewagten Sprünge loses Gestein in Bewegung bringen. Nach einem Regenguss sind oft unzählige Alpensalamander unterwegs. Und mit etwas Glück erlebt man eine unvergleichlich mystische Morgenstimmung, wenn sich die Nebel einer feuchten Nacht über der Gsengscharte hinter der Hütte erheben und zwischen den geschichtsträchtigen Felswänden wabern.