„Du weißt schon, dass auf der Südhalbkugel die Jahreszeiten umgedreht sind?“, fragten mich meine Freunde, als ich ihnen von meinem Plan erzählte, ausgerechnet im März nach Chile zum Eisklettern zu fliegen. „Jetzt spinnt er völlig“, war ihre Reaktion. Auch Hari Berger, den ich als Partner für dieses Unternehmen zu gewinnen versuchte, war skeptisch. Doch auf Grund zweier Wandfotos aus dem Internet, auf denen extrem steiles Eis zu sehen war, meinte er: „Wow, da müss’ ma hin!“
Natürlich hatte ich mich als ausgebildeter Meteorologe schon im Vorhinein gut informiert. Im chilenischen Herbst müssten die Verhältnisse eigentlich perfekt sein: wenig Schnee, sonniges Wetter und bereits etwas kühler als im Hochsommer. Wir wollten ja erst oberhalb von 4500 m klettern, da musste es doch Eis geben!
Schließlich saßen wir am 11. März 2006 zu dritt in einer Boeing 767 von Atlanta nach Santiago de Chile. Unser Freund und Fotograf Hermann Erber durfte natürlich nicht fehlen, auch wenn er nach einer dreiwöchigen Grippe stark geschwächt war. Er hatte schon überlegt, zu Hause zu bleiben; aber eine kleine Skitour, die er ohne Kreislaufkollaps absolvierte, und ein paar motivierende Telefonate konnten ihn schlussendlich überzeugen.
Direkt aus dem kalten Europa kommend erwarteten uns in Santiago 30 Grad Hitze. In der Hauptstadt Chiles stellten wir die Einkaufsliste für die Versorgung unserer Kleinexpedition zusammen: Verpflegung für etwa 14 Tage und Expeditionsnahrung für fünf Tage sollten reichen.
„Wo bitte soll es hier Eis geben?“, fragten mich meine zwei Freunde, was mich noch heftiger schwitzen ließ. Waren die insgesamt 200 kg Gepäck nur dafür da, unsere Träume zu begleiten, oder würden wir wirklich Eis finden? Und falls ja, würde es sich überhaupt zum Klettern eignen? Bei diesen Gedanken wurde mir auch ohne Hitze schwindlig. Dennoch amüsierten wir uns köstlich, als wir im Hotelpool planschend an unsere Eisausrüstung dachten.
Wir verließen Santiago mit gemischten Gefühlen. Eduardo Mondragón alias „Edel“, der chilenische Eiskletterer und unser Freund und Helfer in Chile, brachte uns mit seinem Jeep nach Baños Morales. Auf die Frage nach Eis versuchte er, uns mit seinem Standardspruch „It ’s okay – no problem, you will find something!“ zu beruhigen.
Als wir im Refugio Alemán (1930 m) ankamen, ließen wir es uns vor unserem Abmarsch noch einmal so richtig gut gehen. Steaks und Rotwein standen auf dem Speiseplan, als wir von unserem Reitausflug zu den Colina-Thermen erschöpft zurückkamen.
Am 14. März war es dann so weit. Der Hüttenwirt brachte uns zu dem mit den Reitern vereinbarten Treffpunkt, wo wir unser Material auf drei Mulis laden wollten. Nach der üblichen stündlichen Verspätung wurde unser Material von den Mulis taleinwärts transportiert. Doch so verlässlich die Mulis waren, so unverlässlich waren die Gauchos. Als sie uns nach etwa drei Stunden überholt hatten, war es für sie ein Leichtes, unsere Sachen unbemerkt etwa 7 km zu früh abzuladen. Als sie zurückkamen, wunderten wir uns schon, warum sie so schnell wieder da waren. Grinsend und alles Gute wünschend machten sie sich aus dem Staub. Wir gingen noch eine viertel Stunde und fanden unser Zeug am Weg verstreut. Wir Gringos durften nun alles selbst schleppen. Das bedeutete zwei harte Tage Lastentransport, um das Basislager auf 3500 m errichten zu können. Ein weiterer Tag verging, weil wir uns von der Quälerei erholen mussten.
Als Belohnung sozusagen fanden wir für das Basislager den perfekten Platz: 200 m² Wiese inmitten der Steinwüste, begrenzt durch einen Gletscherbach und einer Therme mit etwa 20 °C warmem Wasser. Die größte Belohnung war jedoch der Ausblick auf die mit einigen gefrorenen Wasserfällen durchzogene Wand oberhalb von uns. Es gab tatsächlich Eis und davon nicht zu wenig!
In den nächsten Tagen erkundeten wir die gesamte Wandflucht. Der Zustieg vom Basislager zur Wand war grauenhaft. Ein einziges Geröllfeld über 800 Höhenmeter. Ich würde es meinen größten Feinden nicht wünschen, öfter als die drei Mal hinauf zu müssen, die wir hochgingen.
Um uns den steinigen Weg in Zukunft zu ersparen, errichteten wir auf 4100 m ein zweites Lager, von dem wir unsere Kletteraktivitäten starteten. Bevor es mit den Eisgeräten losging, rasteten wir zwei Tage im Basislager und ließen unsere zwei Kocher den ganzen Tag laufen. Diese hatten wegen des chilenischen Benzins, das bei den morgendlichen bzw. abendlichen Temperaturen unter null Grad ums Verrecken nicht brennen wollte, nichts zu lachen. Immer wieder beschimpften wir die Schuldlosen, als wir sie mehrmals erfolglos auseinander und wieder zusammenbauten. Um eine Flamme zu erzeugen, musste das Benzin vorgeheizt werden; die volle Heizleistung konnten wir nur selten erreichen. Abgesehen davon ließen wir es uns gut gehen: Wir hatten Kaffee ohne Filter, selbstgebackenes Brot mit Nüssen und Knoblauch, eine Spezialpasta des Meisterkochs Hari mit Zwiebeln, Knoblauch, Thunfisch, Karotten, Käse und Ingwer und als Krönung einen selbst gemachten Apfelstrudel.
Gut gestärkt machten wir uns am 19. März ans Klettern. Wir waren uns einig, eine freie Begehung des riesigen Eisdaches mitten in der Südwand sollte das Ziel unserer Reise sein. Wir wussten, diese Linie würde ein großes Abenteuer werden – und das bekamen wir auch.
Das Eis war eine Mischung aus uraltem, extrem überhängendem Gletschereis in verschiedensten Farben und Formen, mit senkrechten Säulen und Pfeilern, die aus blauem Wasserfalleis bestanden. Wir waren fasziniert, als wir durch diese Eislandschaft kletterten, die ihresgleichen sucht.
Diese einzigartige Mischung hatte noch einen zusätzlichen Effekt: Die Kletterei wurde durch die Steilheit des Eises extrem schwierig. Wir kämpften wie wild in der vierten Seillänge, in einem etwa 6 m ausladenden Eisdach. Die 4500 m über dem Meeresspiegel erleichterten unsere Anstrengungen, mit denen wir versuchten, mit ein paar „Figure of Fours“ in normalen Lederbergschuhen (Bewegungen, die man sonst nur beim Sport-Mixed-Klettern in leichten Wettkampfschuhen zu sehen bekommt) den Stand zu erreichen, auch nicht gerade. Ausgelaugt kamen wir in der Dunkelheit zu unserem Zelt zurück, wo uns Hermann mit einem leckeren Abendessen, Chili con Carne aus dem Metallbeutel, begrüßte. Diese Expeditionsnahrungshersteller meinen es wirklich ernst. Das Chili war feuerscharf! Als ob man in diesen Höhen überflüssig viel Wasser hätte, um übermäßigen Durst löschen zu können …
Unsere Erstbegehung nannten wir „Senda Real“, nach dem Namen eines chilenischen Tequilas. Erst später fand ich heraus, dass „Senda Real“ eigentlich „der wirkliche oder königliche Pfad“ heißt, so ein Zufall! Wir bewerteten „Senda Real“ mit WI 7+ und konnten somit die schwierigste Eiskletterei Südamerikas für uns verbuchen.
Nach zwei Rasttagen kehrten wir in unser Lager unter der Wand zurück. Unser nächstes Ziel war der Gipfel des Marmolejo. Bei dieser Gelegenheit wählten wir eine neue Linie der Südwand. Ausgerüstet mit zwei Haulbags, in denen das Material für das letzte Hochlager war, kletterten Hari, Hermann und ich über den ganz rechten und gleichzeitig leichtesten Wasserfall durch die Wand. Es entstand „Tripple Direct“, mit WI 5– eher eine Genusskletterei. So leicht kam mir der Wasserfall aber dann auch wieder nicht vor, schleppte ich doch den ganzen Tag einen der beiden Haulbags auf meinem Rücken. Am Abend schlugen wir auf etwa 5000 m unser Zelt auf und schliefen sofort ein.
Am nächsten Morgen durften wir noch einmal ans gefrorene Wasser. Diesmal hatten wir es mit bis zu 2 m hohem Büßerschnee zu tun, der uns eine andere Art des Kampfes lehrte und teilweise zum Verzweifeln brachte. Jeder Schritt musste vorsichtig überlegt sein, und das einige hundert Meter lang! Nichtsdestotrotz landeten wir des Öfteren am Grund der „Minispalten“ – mit einem Büßerzapfen zwischen den Beinen. Nach all den Mühen standen wir schlussendlich am 24. März glücklich am Gipfel des Marmolejo, und der Büßerwahnsinn war schnell vergessen. Den atemberaubenden Ausblick konnten wir allerdings wegen des stürmischen Windes und der Kälte nicht lange genießen. Wir machten ein paar Bilder und filmten das Panorama, ehe wir schnell den Rückweg antraten.
Nach dem mühsamen viertägigen Abstieg durch die Geröllwüste hatten wir vorerst genug Abenteuer gesammelt und freuten uns schon auf unsere Heimat.
Text von Albert Leichtfried, Fotos von Hermann Erber